Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
weiß, daß Wilhelm nicht mehr wirklich auf den Stock in seinen Händen, ja nicht einmal auf den mit hellen und dunklen Spänen bestreuten Boden schaut, sondern nach innen, und sich die bevorstehenden Sekunden vorstellt, die ihrer beider Leben für immer verändern werden.
Sie sind wie festgefroren: Johann blickt auf Wilhelm und Wilhelm auf den Boden. Die Sekunden vergehen und werden zu einer Minute. Nach dieser sammeln sich weitere Sekunden an. Es ist ein stiller Tag, kein Windhauch bewegt die Bäume.
Dann dreht sich Johann ganz plötzlich um und geht. Über die Schulter sagt er ruhig zu Wilhelm: »Bleib nicht draußen in der Kälte, Wilhelm! Komm lieber ins Haus zurück!«
Erst als Johann ganz außer Sicht- und Hörweite ist, bittet Wilhelm den leeren Raum um sich herum um Verständnis. »Ich wollte sie nicht töten«, flüstert er. »Nur einen bleibenden Eindruck hinterlassen – damit sie sich immer an mich erinnert, mehr als an meinen Vater und mehr als an meinen Bruder. Sich an mich , Wilhelm, erinnert. Und sich sagt, ich war der eine, ich war der Beste.«
Sogar das Baby Ulla ist leise. Wäre an diesem Tag ein Besucher ins Haus gekommen, hätte er vielleicht gar nicht gemerkt, daß etwas Schreckliches seinen Lauf nahm.
Boris und Matti sind weiterhin mit Rechnen beschäftigt. Marcus unterhält sich mit dem Hirschkäfer, den er in einer mit Moos ausgelegten Schachtel hält. Der Kater Otto schläft am Feuer.
Doch im Zimmer mit dem erstickenden Geruch, wo sich der Arzt, Johann und Emilia aufhalten, geht Magdalenas Todeskampf seinem unvermeidlichen Ende entgegen. Sie ist kaum noch bei Bewußtsein. Als ihr der Doktor Blut aus dem Arm entnimmt, »um das Fließen aus dem Leib abzulenken und zum Stillstand zu bringen«, rührt sie sich kaum.
Johann hatte ihr eine Weile die Hand gehalten und gestreichelt oder ihr seine Hand behutsam auf die kalte Stirn gelegt, doch jetzt, als sich der Tag neigt und die Dunkelheit hereinbricht, zieht er sich ein wenig von ihr zurück und blickt sie nur an – so, als wäre sie schon tot und gäbe es in dem Schlafzimmer nur noch Erinnerungen an ihre purpurnen Kleider, an das ihn manchmal erregende Geräusch, wenn sie nachts in ihren Topf pinkelte, an ihre Beine, die seinen Körper an ihren nagelten, ihre schmutzigen Reden, ihr Lachen und ihren Stolz.
Und Emilia merkt an der Art, wie er sich diskret von ihr zurückzieht, daß Johann wünscht , daß Magdalena stirbt, daß er mit seinen achtundvierzig Jahren erschöpft ist und sich nun nach einem Leben sehnt, in dem er keine Rücksicht auf sie nehmen muß.
Magdalena sagt nichts mehr zu Johann. Ihr ganzes Leben lang war sie laut gewesen, doch nun gleitet sie fast stumm in den Tod. Als dann der Augenblick gekommen und wieder vergangen ist, der Arzt bezahlt und das Bettuch über Magdalenas dunkles Haar gezogen worden ist, gehen Johann und Emilia, ohne ein Wort zu sagen, ins Wohnzimmer hinunter, wo jetzt Wilhelm am Feuer kauert und dieses mit Kohlenstaub abdeckt.
Johann setzt sich in seinen Lehnstuhl, die Familie versammelt sich um ihn. Nur Wilhelm, der noch mit dem Feuer beschäftigt ist, bleibt ein wenig abseits, und Johann sieht, als er zu ihm hinüberschaut, daß er den geschnitzten Stock in drei gleiche Teile gehackt hat und diese nun ins Feuer wirft. Der Junge tut dies achtlos, als handle es sich einfach um ein Stück Brennholz und habe es die ganze Arbeit, aus dem Stock ein Schmuckstück zu machen, überhaupt nicht gegeben.
EIN KÖNIGLICHES DILEMMA
Es wird April.
In der Hoffnung auf Fliederduft geht König Christian in die Gärten hinaus, sieht jedoch, daß die Kälte die Knospen noch fest umklammert hält und er noch eine Weile auf Frühlingsdüfte warten muß.
Wenn ihn dies stört, wenn ihn der Gedanke an die unnatürliche Verzögerung in der Natur wieder einmal daran erinnert, daß sein gefährlichstes Jahr alles mögliche Unerwartete bringen könnte, so hält er sich doch nicht lange damit auf. Ja, er hat sich sogar geschworen, sich über gar nichts mehr längere Zeit Sorgen zu machen, weil er seit Vibeke Kruses Rückkehr zum Palast eine Anhäufung angenehmer Gefühle in sich verspürt, die er nur mit einem Wort beschreiben kann: Glück.
Der König ist so lange nicht mehr dermaßen glücklich gewesen, daß er fast schon vergessen hat, wie man sich in diesem Zustand benimmt, ohne dumm zu wirken. Er gerät in Versuchung, auf alle anderen Vergnügen zu verzichten und Regierungsangelegenheiten von sich zu schieben, um
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