Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Augen und erfrorenen Hände, wegen des Verlustes seiner Freunde und Ingenieurkollegen, die sich mit ihm vom Sajanischen Gebirge aus auf den Weg gemacht und nicht überlebt haben.
Die Leute vom Isfoss finden sich damit ab, daß sie abwarten müssen. Bleibt Alexander am Leben, oder stirbt er? Reicht das Wissen eines einzelnen Ingenieurs aus, um die Mine wieder zu eröffnen? Wird dieses Wissen – zum Greifen nah – in ihm verschlossen bleiben, weil er es nicht erklären kann?
Møller, der sich um ihn kümmern muß und nachts von seinen Schreien geweckt wird, sagt zu den Leuten, er glaube, Alexander werde nicht wieder gesund. Sein Körper ist ausgelaugt. Auf eine Schieferplatte malt der Russe Bilder von Hunden, die im Schnee liegen, und von Männern, die den Hunden das Fleisch vom Körper hacken und es essen. Eines seiner wenigen Besitztümer ist ein silbernes Kreuz, das er sich vor dem Einschlafen auf die Lippen legt.
Der Pfarrer bittet die Leute, ihm alle Nahrung zu bringen, die sie erübrigen können, und den Vögeln im Wald Fallen zu stellen, damit er eine nahrhafte Sperlingssuppe kochen kann. Der Arzt mischt eine Quecksilberpaste für Alexanders Augen.
Seine Felle werden zum Waschen im Fluß abgeholt und wieder zusammengenäht. Møller wickelt ihn in sauberes Leinen und denkt dabei, auf wie seltsame Art der Russe mit seinem Körper, schmalen Gesicht und dunklen Bart doch dem Christus seiner Phantasie ähnelt. So beginnt er, inbrünstig zu beten, daß der Mann wieder gesund wird. Der Gedanke, es könne in seinem eigenen Haus eine Art Wiederauferstehung stattfinden – als Ausgleich für alle im Namen der Silbermine gebrachten Opfer –, erfüllt Rotte Møller plötzlich mit hektischer Aufregung.
Im Laufe der Zeit wird Alexander kräftiger. Er kann in Møllers Zimmer nun schon zum Fenster gehen und auf die Straße blicken. Doch deren Anblick scheint ihn zu belasten, und der Pfarrer begreift allmählich, daß ihn nicht die Straße selbst quält, sondern die Tatsache, daß er seine Kameraden nicht auf ihr sieht. Die Tränen vermengen sich mit dem Eiter, der ihm noch immer aus den Augen sickert. Oft schlägt er sich auf den Kopf oder die Brust und babbelt wirr in einer Sprache, die für Møller hoffnungslos unverständlich ist. Und irgendwo in alldem scheint eine Frage verborgen zu liegen.
»Sagt mir«, bringt Møller schließlich in Russisch heraus, »sagt mir, was es ist!« Dann sinkt Alexander manchmal vor ihm auf die Knie und legt sogar den Kopf auf den Steinboden. Doch Møller versteht nur, daß der Russe unter seelischen Qualen leidet.
Eines Tages greift Alexander wieder zur Schiefertafel und malt ein neues Bild vom Fleischessen. Er zeigt es Møller. Der Pfarrer, der sich schon so lange darum bemüht, die Dorfbewohner vom Isfoss durch die Wiedereröffnung der Silbermine zu retten, starrt entsetzt darauf. Doch dann wird sein Blick sanft vor Mitleid, denn er hat nun begriffen – an diesem kalten Apriltag des Jahres 1630 –, daß er an die Grenzen seines Bemühens gestoßen ist. Er legt Alexander die Hand auf den Kopf.
Mit Hilfe des Doktors führt Møller den Russen behutsam zur Kirche, wo das einzig Schöne und Wertvolle ein Ölgemälde von der Kreuzigung auf der gewölbten Decke ist. Alexander, der jetzt nicht mehr weint und jammert, kniet darunter nieder, und Møller ruft Gott an, er möge »Seinem Diener Alexander verzeihen, zu welchen Mitteln er greifen mußte, um am Leben zu bleiben, und ihm Frieden gewähren«.
Bald darauf beruft Møller eine Versammlung aller Dorfbewohner vom Isfoss ein.
Er hält eine sehr ernste Rede. Er erinnert sie daran, wie zufrieden sie waren, bevor das Silber in ihren geliebten Bergen entdeckt wurde. Er sagt, er glaube nun, daß nach all dem, was Alexander erlitten hat, schon ein zu hoher Preis für die Fortführung der Mine bezahlt worden ist und nichts mehr im Hinblick darauf unternommen werden sollte. Er sagt, gewisse Träume und Sehnsüchte verursachten mehr Leid, als sie je heilen könnten. Er sagt außerdem, er sei jetzt der Meinung, man solle den Zugang zur Mine für immer versiegeln und dort »irgendeinen Baum pflanzen, der am Felsen haftet«, so daß bereits in der nächsten Generation, wenn man mal von den Gräbern absieht, niemand mehr wissen wird, daß dort jemals etwas entdeckt worden ist.
Als die Leute zu murren und klagen beginnen, was Rotte Møller nicht anders erwartet hatte, ruft er: »Überlegt doch mal, was die Mine überhaupt ist ! Ihr werdet
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