Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Ende der Mahlzeit ein durchweichter Lappen. Auch Geschichte schien ihm Probleme zu bereiten, ebenso das Singen von Kantaten. Doch am meisten tränten ihm die Augen, wenn er wütend war. Wenn er schlagend und schimpfend durchs Klassenzimmer lief, rann ihm ein wahrer Sturzbach von Tränen übers bleiche Gesicht. Christian hatte die Theorie aufgestellt, die er auch ein- oder zweimal Bror Brorson gegenüber äußerte, daß sich Hans Mikkelson einen Beruf ausgesucht hatte, über dessen Wert er eine bange Unsicherheit empfand. Wissen war ihm wichtig, das war klar, doch das Weitergeben dieses Wissens bereitete ihm nur bedingt Freude.
Bror Brorson wurde von Mikkelson am meisten verabscheut. Er war mit seinen feinen Gesichtszügen, tiefblauen Augen und seinem dicken, blonden Haarschopf der hübscheste Knabe der Schule, außerdem war er ein sehr guter Läufer und Reiter. Wie Christian zeigte er Mut. Doch eins konnte Bror nicht: Schreiben. Es war nicht so, daß er das, was er schreiben wollte , nicht im Kopf hatte. Zum Beispiel war er in Latein kein schlechterer Gesprächspartner als viele andere in der Koldinghus. Wenn er aber einen Gedanken, eine Tatsache oder Beobachtung zu Papier bringen wollte, hinderte ihn etwas daran, richtig zu schreiben. Was klar begann, endete im Durcheinander. Seine Arbeitsbücher waren beschämend. Sie hätten von einem vierjährigen Kind stammen können. Und selbst sein eigener Name (so leicht er doch mit der zufriedenstellenden Wiederholung war) bereitete ihm Schwierigkeiten. Manchmal fehlten Buchstaben, so daß Ror Brsen oder Brr Rosn auf dem Papier stand. Meistens waren zwar alle Buchstaben da, doch in veränderter Reihenfolge, wie Rorb Sorbron oder Brro Rorbson.
»Was ist denn das?« fragte Mikkelson dann neben seinem Pult und schlug auf das Wort Rorbson. »Was ist denn das für ein übles Chaos?«
Ein Schlag übers Ohr. Ein Schlag auf die fehlgeleitete Hand.
»Es tut mir leid, Herr Professor Mikkelson …«
»Übers ›Leid‹ sind wir hinaus, Brorson. Wir sind schon bei der ›Verzweiflung‹.«
»Ich versuche es noch einmal, Herr Professor.«
»Ja! Tu das! Und diesmal schreibst du deinen Namen richtig!«
Mein Name sit Rbor Sorren. Meine Mane ist Obrr Sorner …
Ein heftiger Schlag auf die Wange. Die Faust donnert aufs Pult. Mikkelsons Augen füllen sich mit Tränen.
»Raus hier! In den Keller! Dort bleibst du bis zum Abend, bis deine Finger vor Kälte taub sind! Raus!«
Weil Mikkelsons Wut und Verzweiflung über ihn mit jedem Tag schlimmer wurden, verbrachte Bror Brorson so viele Tage und sogar Nächte im Keller, daß er binnen kurzem mit einem hartnäckigen und bellenden Husten zum Unterricht erschien; dadurch wurde die natürliche Wissensvermittlung Mikkelsons an die Schüler gestört, woraufhin er wieder in den Keller geschickt wurde.
Eines Nachts erzählte Bror Christian, daß er sich allmählich vor dem Keller fürchte. »Anfangs hatte ich keine Angst«, sagte er. »Es gibt zwar ein paar Mäuse da unten, doch diese machen mir nichts. Ich habe vor dem Keller selbst Angst. Er und ich befinden sich im Kriegszustand. In ihm lauert der Tod und will mich umbringen. Und ich will das nicht zulassen.«
Christian liebte Bror Brorson; er war sein bester und treuester Freund. Daher ging er zu Hans Mikkelson und bat ihn, »als Gefallen, mir, Eurem künftigen König gegenüber« Bror nicht mehr in den Keller zu schicken. Mikkelson wischte sich die Augen trocken, seufzte und sagte: »Ich höre auf, ihn in den Keller zu schicken, wenn er aufhört, seinen Namen rückwärts zu schreiben. Als mein künftiger König werdet Ihr die Logik dieser Entscheidung sicher verstehen.«
Im Winter 1588 wurde Bror Brorson krank. Er wurde ins Hospital gebracht, wo man ihn rohe Eier essen und heiße Balsame inhalieren ließ. Um seine meerblauen Augen hatten sich dunkle Schatten gelegt. Christian besuchte ihn jeden Tag und las ihm aus der Bibel vor. Brorson erzählte ihm: »In der Bibel mag ich die Jünger am liebsten. Es sind einfache Fischer, und sie hätten Schwierigkeiten mit den Wörtern gehabt.« Die Buben waren elf Jahre alt.
Als die Klasse eines kalten Februarmorgens im Schulzimmer auf Mikkelson wartete, traf eine sehr wichtige Nachricht ein.
Mikkelson betrat das Schulzimmer, und die Knaben standen wie üblich auf. Normalerweise setzte sich der Professor dann mit Blick zu ihnen an sein Schreibpult, doch diesmal nahm er nicht Platz. Er blieb ganz still stehen, blinzelte, wie immer, wenn er
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