Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
Vom Netzwerk:
Englisch, Religion, Physik, Geschichte und Geographie unterrichtet. Beim Mittagessen diskutierten sie in Latein und einer anderen Fremdsprache. Die Nachmittage verbrachten sie mit Fechten, Reiten und Ballspielen und die Abende im Gebet. Ihnen blieb keine Muße; die Tage waren zu lang und die Nächte zu kurz. Es war nichts Ungewöhnliches, daß ein Knabe mitten in der Englischstunde einschlief.
    Christians liebster Augenblick im Tagesablauf war der, wenn die Aktivitäten des Nachmittags vorbei waren und die Knaben zu ihren Schafsälen zurückkehrten, um sich vor dem Abendessen umzukleiden. Nicht daß ihm der Schlafsaal gefiel oder er sich vor dem nicht besonders köstlichen Abendessen, das ihn erwartete, gern umzog: Was er genoß, war vielmehr das außerordentliche Gefühl von Körperkraft – der Beherrschung seines Ichs –, das er nach dem Fechten und den Mannschaftsspielen draußen verspürte. Es hielt nicht länger als eine halbe Stunde an, schenkte ihm jedoch, solange es währte, tiefe Befriedigung. Nach ein paar Wochen in der Koldinghus beschloß er, daraus Nutzen zu ziehen. Denn wie oft kommt es schon vor, daß sich ein Knabe als Meister all dessen fühlt, was er sieht und empfindet? Ein Knabe zu sein bedeutete häufig, erstaunt darüber zu sein, wie alles miteinander verknüpft ist; einfacher ausgedrückt: von der Welt verwirrt zu sein. Doch hier gab es nun, während die Tage allzu langsam verstrichen, Augenblicke, in denen sich der künftige König eins mit seiner Rolle auf Erden fühlte, in denen er das Gefühl hatte, König sein zu können oder in seinem Innern schon König zu sein.
    Und so ersann er das, was er seine »halbe Stunde absoluter Majestät« nannte.
    Er nahm dann einen hübsch gespitzten Federkiel und ein Stück Pergament und schrieb in der Gewißheit, daß seine Hand jeden Strich oder Schwung der Feder perfekt beherrschte, und in dem Gefühl, daß ihn seine Kraft durchfloß und in veränderter Form auf dem Pergament wieder zum Vorschein kam, unentwegt seinen Namen in schöner Kalligraphie von außergewöhnlichem Niveau:

    Dann verschönerte er diese Niederschriften seines Namens und Titels noch, indem er das lateinische Motto wiedergab, das er bereits für seine künftige Herrschaft gewählt hatte: Regna Firmat Pietas (Frömmigkeit gibt dem Königreich Stärke).

    Wenn es zum Essen läutete, unterschrieb er die Seite hastig, aber trotzdem perfekt mit CIV , manchmal auch mit C 4 , wobei die » 4 « auf dem großen C ruhte wie ein Kind auf dem Schoß seiner Mutter oder seines Vaters. Er sah in seinem wunderbaren Schreiben gern den kalligraphischen Ausdruck seines innersten Wesens, und da war nichts Mangelhaftes. Da gab es keine Schludrigkeit. Alles war schön und vollständig.

    Hans Mikkelson, der oberste Lehrer oder – wie er offiziell hieß – Rektor, war ein merkwürdig launischer Mann. An manchen Tagen zeigte er Geduld mit den Knaben, ging vollkommen in der Aufgabe auf, ihnen sein Wissen zu vermitteln, ganz so, als sei dieses ein weicher Mantel, den er ihnen geduldig um die Schultern legte. Dann gab es Zeiten (die üblicheren bei ihm), in denen sein hageres Gesicht eine säuerliche Miene zur Schau trug, er unnötig pedantisch bei seinen Lateinkorrekturen war und häufig von seiner ledernen Fliegenklatsche Gebrauch machte, mit der er den Knaben brutal über die Hände, die Seiten ihrer Arbeit oder manchmal auch über die Ohren schlug. Zumindest ein ehemaliger Schüler der Koldinghus klagte, von Hans Mikkelsons schrecklichen Schlägen über die Ohren einen lebenslangen Hörschaden davongetragen zu haben. Doch es gab auch welche, die sich voller Respekt und Zuneigung an ihn erinnerten und liebevoll an Mikkelsons Gebrechen dachten: Seine Augen tränten.
    Dieses Tränen der Augen des Rektors übte eine große Faszination auf Christian aus. Er versuchte herauszufinden, welche Umstände die meiste Nässe hervorriefen. Ihm fiel zum Beispiel auf, daß Mikkelson morgens größere Probleme mit seinen Augen hatte als abends und er sich, wenn die Sonne zum Schulfenster hereinschien, so hinstellen mußte, daß ihm kein Strahl ins Gesicht fiel. Außerdem stellte er fest, daß die Tränen besonders reichlich flossen, wenn er Italienisch unterrichtete, als würde die Melodie dieser Sprache so wenig mit seiner klanglosen Persönlichkeit übereinstimmen, daß es ihm stets Qualen bereitete, wenn er sie zu sprechen versuchte.
    Wenn beim Mittagessen in Italienisch diskutiert wurde, war Mikkelsons Serviette am

Weitere Kostenlose Bücher