Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Charlotte, »doch George ist sterblicher .«
Immer wenn ein Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag und Sonntag vergangen ist, streicht ihn Charlotte mit einer sauberen Linie durch. Und nun sind nur noch sechzehn Tage übrig. »Ich weiß«, sagt sie zu ihrem Vater, »daß es undankbar ist, sich Zeit wegzuwünschen. Wenn ich alt bin oder auch nur ein bißchen alt, werde ich sie mir bestimmt zurückwünschen. Ich kann es aber nicht ändern.«
George Middleton ist Charlottes Bild von den Tagen natürlich nicht gezeigt worden. Sie möchte zwar, daß er weiß, daß sie sich inständig auf ihre Hochzeit freut, doch nicht, wie inständig. Das braucht er nicht zu wissen. Es könnte ihn selbstgefällig oder eitel machen. Sie will das Bild vielleicht als Andenken aufheben, und wenn sie und George zusammen alt geworden sind, ihre Kinder erwachsen sind und ihre Enkel auf den Wiesen von Cookham herumtollen, kann sie es dort, wo sie es versteckt hat, wieder hervorkramen und ihm zeigen. Wird er dann nicht feucht glänzende Augen – ob vor Rührung oder Lachen spielt keine Rolle – bekommen?
Auch George Middleton freut sich auf die Hochzeit. Er erzählt seinen Hunden: »Bald haben wir Daisy hier!« und hat das Gefühl, daß es schon nach sehr kurzer Zeit so sein wird, als sei Daisy schon immer dagewesen. Und genau so sollte es sein – daß es vollkommen richtig ist, der Vergangenheit Veränderungen aufzuerlegen.
Nur etwas beunruhigt ihn. Auf Cookham ist ein Brief von Charlottes Bruder eingetroffen, und George Middleton weiß einfach nicht, was er darauf sagen oder tun soll.
Der Brief ist höflich und freundlich, jedoch ziemlich kurz:
… Gewisse Angelegenheiten hier in Dänemark hindern mich daran, rechtzeitig nach England zurückzukehren, um zu sehen, wie Ihr meine Schwester heiratet. Ich kann Euch nicht näher beschreiben, um welche es sich handelt, sondern muß Euch bitten, mir zu glauben, daß sie von großem Belang für meine eigene Zukunft sind. Würdet Ihr daher bitte Charlotte erklären, daß ich am dritten Tag im Mai zwar an Euch beide denken und sogar ein kleines Lied für Euch spielen werde, mich auch danach sehnen werde, zu hören, daß ich Onkel eines hübschen Cookham-Kindes geworden bin, aber an der Zeremonie selbst nicht teilnehmen kann?
Deutet nichts an, was ihr Sorgen bereiten könnte! Zeigt ihr auch diesen Brief nicht, George, sondern schickt ihr nur meine liebevollen Gedanken, die sich wie Tauben auf sie niederlassen und ihr zugurren sollen: »Charlotte Middleton, du sollst glücklich und gesegnet sein!«
Euer Schwager in spe, der Euch herzlich zugetan ist,
Peter Claire
George Middleton liest den Brief mehrmals, als hoffe er, darin versteckte Anweisungen zu finden, die er zunächst übersehen hat. Er fragt sich, ob er begriffsstutzig ist, weil er sie nicht wahrgenommen hat. Denn er ist sich, da er Charlottes Vorahnungen im Hinblick auf Peter kennt, seiner Pflicht bewußt, es ihr sofort mitzuteilen, wenn es ihrem Bruder gutgeht. Doch wie soll er das machen, wenn er sie gleichzeitig mit der Nachricht beunruhigen muß, daß Peter nicht zur Hochzeit kommen wird? Wird sie außerdem nicht, wenn er sich weigert, ihr den Brief zu zeigen, zum einen glauben, daß etwas nicht stimmt, zum anderen, daß er, George, geheimnistuerisch und grausam ist? Ob er ihr vielleicht nur die kurzen Passagen des Briefs vorlesen könnte, die ihr keine Sorgen machen werden, wie zum Beispiel das Ende? Nein, das könnte er nicht, da sie mit diesen mageren Auskünften nicht zufrieden sein und einen Weg finden würde, ihm den Brief aus der Hand zu reißen. Seufzend faltet ihn George Middleton zusammen. Es ärgert ihn, daß ihn Peter in diese mißliche Lage gebracht hat. Es ist schön und gut, denkt er, derartige Anweisungen zu erteilen, doch sie auszuführen steht auf einem ganz anderen Blatt.
Er denkt viel darüber nach. Ihm geht Charlottes plötzlicher Schwächeanfall in ihrem blauen Boudoir nicht aus dem Kopf, als sie glaubte, ihr Bruder sei von irgendeiner Katastrophe heimgesucht worden.
George Middleton kramt aus seinem Wortschatz (der nicht so umfangreich wie der eines gebildeten Mannes, aber dennoch brauchbar ist) den Ausdruck »Vertrauen« heraus. Er wird sein Dilemma lösen, indem er Charlotte daran erinnert, daß gegenseitiges Vertrauen zu den Grundfesten einer guten Ehe gehört, und ihr sagt, daß sie ihm in dieser Angelegenheit ihres Bruders vertrauen muß und ihn nicht darum bitten darf, ihr mehr zu
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