Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
doch herrscht völliges Schweigen.
Das Schiff segelt nicht nach England. Die Sankt Nicolai nimmt Kurs auf Horsens in Jütland.
Peter Claire hat nur ein Bild vor Augen, und dorthin ist er unterwegs: zu Emilia Tilsen.
Sie steht nicht mit sonnenbeschienenem Gesicht am Vogel-haus, sondern im Keller am Hühnerkäfig. Sie blickt von den ausgemergelten, im Schmutz scharrenden Hühnern auf und schaut ihm entgegen. Ihr Haar, das weder dunkel noch hell ist, sieht im vorhandenen Schatten dunkler aus, und ihre Augen sagen: Peter Claire, was gedenkst du an der Welt zu ändern?
Er weiß es nicht. Doch er glaubt, er werde es auf der Stelle wissen, wenn es ihm nur gelingt, zu ihr zu gelangen. Wenn er sie jedoch verloren hat, wird er es wahrscheinlich nie erfahren. Er wird alt werden, ohne es je in Erfahrung gebracht zu haben.
Während er auf seiner Koje döst, beginnt der Nordwind die schlafenden Segel zu bewegen, und der Kapitän treibt die Mannschaft an, um die Sankt Nicolai in den Wind zu kriegen. Peter Claire, der spürt, wie das Schiff dreht, und hört, wie das Wasser gegen dessen Seiten schlägt und stößt, denkt darüber nach, wie seine Gedanken auf dem Meer ständig zwischen Erwartung und Furcht hin und her tanzen.
Es ist fast Nacht, als die Sankt Nicolai den Hafen von Horsens anläuft.
Da er plötzlich besorgt ist, er könne zu spät kommen – vielleicht nur einen Tag oder eine Stunde – und feststellen, daß Emilia weggegangen ist oder einen anderen Mann geheiratet hat, sagt er zum Kapitän, man solle ihm seinen Koffer nachschicken, da er sich direkt auf den Weg nach Boller machen wolle.
»Boller ist nicht weit von hier«, erwidert der Kapitän. »Doch warum wartet Ihr nicht bis zum Morgen? Dann können wir Euch ein Pferd besorgen.«
»Ich möchte lieber gleich gehen. Dann komme ich bei Sonnenaufgang an.«
Der Kapitän warnt ihn, daß die Straßen Jütlands nachts gefährlich sein können, und meint, er solle lieber noch auf dem Schiff schlafen. Doch diese Worte gehen unter, weil der Lautenspieler einen Taubheitsanfall hat und nur Lärm in seinem Kopf hört, als würde Stoff zerrissen. Peter Claire hält sich die Hand übers Ohr, kämpft mit dem Schmerz und nickt dem Kapitän zu, als nehme er Notiz von dem, was dieser sagt. Dann verabschiedet er sich und macht sich ohne weitere Förmlichkeiten auf den Weg durch die dunklen Straßen der kleinen Stadt.
Es ist beinahe Vollmond, der die Wolken, die der Wind über den Himmel rasen läßt, fast weiß färbt. Peter Claire versucht beim Laufen, den Schmerz in seinem Ohr zu besiegen, indem er ruhig das Lied summt, das er für Emilia begonnen, aber nie beendet hat. Nach einer Weile merkt er, daß der Schmerz nachläßt und die Melodie mit einer plötzlichen Hinzufügung daraus hervorgeht, einer Hinzufügung ohne Worte, die von unerwarteter Schönheit zu sein scheint.
Peter Claire weiß, daß er stehenbleiben und die Noten aufschreiben sollte, doch das will er nicht. Er friert nicht mehr. Er hat ein Schrittempo gefunden, das ihn nicht ermüdet. Er denkt über die vielen Meilen nach, die ihn so lange von Emilia getrennt haben, über diese Entfernung, die soviel größer als die tatsächliche war und nicht überwunden werden konnte, auch nicht durch Worte auf Papier. Doch nun, in dieser Mondnacht, wird sie bewältigt, Schritt für Schritt bezwungen, von seinem Schatten und seinem Willen. Er – der gekommen war, um seine Zukunft in Dänemark zu suchen – wagt nun fast zu glauben, daß sie in Reichweite ist und ihm bei Tagesanbruch offenbart werden wird. Ohne eigentlich zu merken, was er tut, nur von dem festen Wunsch beseelt, sich schneller in Richtung Sonnenaufgang zu bewegen, beginnt er zu rennen.
Später wird er denken, daß ihn, wenn er nur nicht gerannt, sondern ruhig weitergelaufen wäre, niemand hätte kommen hören. Er weiß nicht, was in ihn fuhr, daß er, obwohl noch die ganze Nacht vor ihm lag, wie ein Kind zu rennen begann. Doch es ist zweifellos der Lärm der eiligen Schritte, der die beiden Fremden auf die Straße treibt. Er sieht sie vor ihrem Haus, das niedrig ist und ein Strohdach hat. Sie stehen da und beobachten, wie er herankommt, und er verlangsamt seinen Schritt wieder.
In ihrer formlosen Kleidung, bei der es sich um Nachthemden oder Mäntel aus einem blassen Material handeln konnte, sehen sie gespensterhaft aus, doch ihre vom Mondlicht geworfenen Schatten sind lang und fallen über die Straße. Das ist alles, woran sich Peter Claire später
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