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Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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noch erinnern wird, daß er weiterläuft, bis er sich auf fast gleicher Höhe mit den beiden Schatten befindet. Er kann sich nicht richtig an die Personen erinnern, jedenfalls nicht genug, um sagen zu können, ob es zwei Männer oder ein Mann und seine Frau waren, auch nicht, ob er oder sie etwas sagten. Er glaubt hinterher sicher, daß etwas gesagt worden sein muß, weiß aber zugleich, daß es ihm, was immer es auch gewesen sein mochte, vielleicht nie wieder einfallen wird. Es gibt bloß noch dies: sein Rennen, das plötzliche Auftauchen der Fremden und dann das langsame Verkürzen des Abstands zwischen ihm und den beiden über die Straße fallenden Schatten. Dann herrscht Stille.

KIRSTEN: AUS IHREN PRIVATEN PAPIEREN
    In diesem eigentümlichen Frühling, der eigentlich gar kein Frühling ist, sondern eine bloße Verlängerung des Winters mit hier und da ein paar Blättern und Blumen, die in der bitterkalten Luft wie Mädchen zittern, bemerke ich auf Boller viel Kommen und Gehen.
    Die Dinge geschehen nach und nach, auf unvorhersehbare Weise, so daß man darin unmöglich irgendein Muster oder eine Ordnung erkennen kann. Wenn ich aber durchs Haus gehe, sehe ich doch, daß sich darin innerhalb kurzer Zeit viel verändert hat, als wäre es ein bewegliches Beförderungsmittel wie ein Schiff, wo die ganze Zeit Passagiere und Fracht ein- und ausgeladen werden.
    Zunächst einmal habe ich mein Baby Dorothea weggegeben.
    Sollte mich jemand der Herzlosigkeit bezichtigen, dann werde ich mich heftig verteidigen, da ich das, was ich getan habe, wirklich für eine gute Tat halte, für die mich der Himmel belohnen wird. Wenn die Leute etwas anderes behaupten, dann zeigt das bloß, daß sie keine Ahnung haben.
    Es kam so. Eine Freundin meiner Mutter, die glaubte, Ellen würde hier noch wohnen, traf am letzten Dienstag mit ihrer Tochter ein. Diese heißt Christina Morgenson, und ich hatte sie ein- oder zweimal in meinem Leben gesehen.
    Ich hatte nicht allzuviel Lust, diese Frauen hereinzubitten und mich der lästigen Aufgabe zu unterziehen, Konversation mit ihnen zu machen. Ich wollte schon vorschlagen, daß sie sich in einem nahe gelegenen Gasthof einquartieren, als ich – aus mir selbst unerfindlichen Gründen – meine Meinung änderte und eine phantastische Schau abzog. Ich hieß sie auf Boller willkommen, sagte: »Ach bitte, seid doch meine Gäste!« und »Oh, was für eine große Freude, euch hier zu haben!« und so weiter. All dies war nichts als ein Lügengespinst, und ich weiß immer noch nicht, warum ich diese Unwahrheiten von mir gab, wenn man einmal davon absieht, daß ich manchmal schon bemerkt habe, daß sich die Stimme gelegentlich aus einer Laune heraus zu einer Meuterei gegen den Kopf entschließt und jede Menge rebellischer Worte von sich gibt, denen der Kopf nicht zugestimmt hat oder die er sogar meinte ausdrücklich verboten zu haben.
    So kam es, daß ich mir diese Leute aufgehalst habe, die ich nicht eingeladen hatte und die ich, wie mir plötzlich wieder einfiel, gar nicht leiden konnte, sondern vielmehr verabscheute und gehofft hatte in meinem Leben niemals wiederzusehen. Was für ein Riesendummkopf du doch bist, Kirsten! schalt ich mich. Hast du den Verstand verloren, daß du für die arme Christina Morgenson und ihre unerträgliche Mutter eine solche Freundschaft bekundest? Ich hatte jetzt nur noch einen Gedanken, und zwar den, sie möglichst schnell wieder zur Abreise zu bewegen.
    Am Abend ihrer Ankunft heckte ich dann einen schönen Plan aus. Christina Morgenson ist in meinem Alter und mit einem Kaufmann aus Hamburg verheiratet, hat aber in all den Jahren seit ihrer Eheschließung kein Kind zur Welt gebracht. Kurzum, sie ist unfruchtbar, und diese Unfruchtbarkeit ist für Christina wie eine Wunde, so daß sie, immer wenn das Gespräch auf Kinder kommt, den Eindruck erweckt, als habe sie starke Schmerzen, und sich sogar die Herzgegend mit der Faust knetet. Und wegen dieses Knetens ihres Herzens tat sie mir (gutherzig, wie ich mit zunehmendem Alter werde) zunächst einmal leid, und dann entstand in mir fast augenblicklich mein Plan.
    Ich ließ Dorothea (die jetzt keine Windeln mehr trägt, ein bißchen sitzt und versucht, ein paar Laute hervorzubringen und Bläschen herauszupusten) ins Speisezimmer holen, wo wir saßen. Ich nahm das Kind, das bei gewissen Lichtverhältnissen manchmal einigermaßen hübsch aussieht, in die Arme, stand auf, ging mit ihm zu Christina hinüber und legte es ihr mit den Worten

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