Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
auf die Serviette in ihrem Schoß: »Hier habt Ihr Dorothea! Sie hat zwei Väter, aber keine wirklich hingebungsvolle Mutter. Warum nehmt Ihr sie nicht, Christina, und nennt sie Euer eigen? Denn ich kann in diesem Haus einfach keinen Säugling ertragen, weil ich zu viele gehabt habe und ihrer überdrüssig bin. Es wird mich nicht allzusehr aufregen, wenn ich Dorothea niemals wiedersehe.«
Ich brauche ja wohl nicht zu erwähnen, wie sehr Christina und ihre Mutter dem Anschein nach protestierten: »O Erbarmen, aber so etwas könnten wir niemals tun!« und »O du lieber Himmel, aber was für ein Verbrechen würden wir begehen, wenn wir Euch Euer Kind rauben!« und so fort, lallala und trallala. Doch ich wußte, dies würde seinen Lauf nehmen und schließlich zu einem Ende kommen, denn Christinas Gesichtsausdruck war ganz verändert, als sie Dorothea in den Armen hielt, und das Kind streckte die Arme nach seiner neuen Mutter aus und blies ihr ein paar seiner berühmten Bläschen ins Gesicht.
Als sie zugestimmt hatten, sagte ich: »Ich denke bloß, daß es klug wäre, wenn Ihr Euch mit Dorothea bereits früh, bevor ich aufwache, auf den Weg macht, damit ich nicht in Versuchung gerate, meine Meinung zu ändern.«
So gab es, als ich am Mittwoch aufwachte, keinerlei Anzeichen meiner Gäste mehr. Dorothea war auch weg, und ich fühlte mich sehr erleichtert, als würde nun ein drohendes schreckliches Ereignis nicht mehr eintreffen.
Eine andere, weit weniger angenehme Abwanderung von Boller betrifft die vieler Möbel meiner Mutter.
Von der Königinwitwe auf Kronborg gesandt, kamen ein paar Männer mit Wagen, in die sie trotz meines Protests Tische und Stühle, Bilder, Kerzenhalter, Porzellan, Sessel, Bettwäsche und sogar Betten luden. Sie plünderten die Speisekammer und holten alle Marmeladentöpfe Ellens ab, so daß nicht einer übriggeblieben ist. Dieses kleinliche Wegnehmen der Marmelade (der einzigen süßen Sache, die meine Mutter je zuwege gebracht hat) ließ mich derart in Rage geraten, daß ich einem der Möbelträger mit den Fingernägeln das Gesicht zerkratzte. Daraufhin flohen sie mit ihren hochbeladenen Wagen, und ich stand in der Tür und verfluchte lautstark diese Männer und Ellen, die mir, abgesehen vom Leben selbst, nie etwas gegeben, sondern vielmehr immer nur danach getrachtet hatte, mir alles wegzunehmen, was ich besitze.
Ich lief durch die leeren Räume und dachte daran, daß ich den König, als ich noch auf Rosenborg war, um alles bitten konnte, woran ich mein Herz gehängt hatte, und es dann geschenkt bekam. Zu dieser wechselhaften Jahreszeit richtet er sich nun nach Vibekes Launen, und ich bin in Vergessenheit geraten. Ich war derart melancholisch, daß ich mir fast einredete, mit dem König immer glücklich gewesen zu sein, nie irgendwelchen Widerwillen gegen ihn empfunden und mich nie brennend, als wäre ich am Verdursten, nach meiner Freiheit gesehnt zu haben.
Ich setzte mich dann in Vibekes Zimmer, in dem jetzt nichts mehr ist außer einem Orientteppich und einer großen Eichen-truhe, in der Vibeke immer ihr gestohlenes Essen versteckt hatte, auf den Boden. Ich blickte auf meine Hände (die, wie ich meine, noch immer weich, weiß und bewundernswert sind), sah Blut unter meinen Nägeln und dachte bei mir, daß es einem manchmal nicht einmal nutzt zu bluten.
Doch so wie die Wagen mit den Möbeln abfahren und Dorothea aus meinem Blickfeld verschwindet, gibt es hier auch außergewöhnliche Ankünfte …
Gestern sehe ich frühmorgens einen Wagen die Einfahrt heraufkommen und am Kutscher die königliche Livree. Ich stehe am Fenster, warte und beobachte, und schon bald erspähe ich zu meinem großen Erstaunen und Entzücken, wie meine beiden schwarzen Sklaven Samuel und Emmanuel aus dem Wagen steigen.
Ich gehe hinunter an die Tür, und der Kutscher überreicht mir Briefe vom König, die bestimmt Näheres über seine Scheidung von mir enthalten. Daher lege ich sie beiseite, um sofort zu Samuel und Emmanuel zu gehen, die trotz ihrer Schwärze ein wenig blaß von der Reise sind.
Ich führe sie ins Haus, jeden an einer Hand, schwarz auf weiß und weiß auf schwarz, und erzähle ihnen, wie sehr ich darauf gewartet habe, sie wieder bei mir zu haben, und wie hier auf Boller unsere Stunden mit magischen und geisterhaften Geschichten von ihrer Insel Tortuga erfüllt sein werden und wie wir uns, wenn wir der Märchen überdrüssig sind, eigene Vergnügungen ausdenken werden, um uns die Zeit zu
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