Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Säugling, und darauf wartete, Bror Brorsons Leben zu vernichten.
Das Licht des kurzen Tages begann zu schwinden, so daß man das Schneien draußen nicht mehr sehen konnte, doch Christian ließ keine Kerze kommen. Zum Tod und zu der hereinbrechenden Nacht sagte er: »Ich bin dunkler als ihr. Ich bin Tinte. Ich bin reine und fehlerfreie Kalligraphie, und es gibt keinen Schwärzegrad, der mir nicht vertraut ist!«
Wieder kam die Schwester, um Christian zum Gehen zu bewegen, aber er wollte nicht. Hans Mikkelson kam, doch er weigerte sich, den Rektor ins Zimmer zu lassen, und wußte, daß man ihm jetzt gehorchen mußte.
Die ganze Nacht hielt er im Namen Bror Brorsons den Tod in Schach. Der Tod glitt aus den Falten der Bettdecke und peitschte die Zimmerwände mit dem Schwanz. Er atmete einen verpestenden Gestank in die Luft.
Im ersten Licht der Morgendämmerung spürte Christian eine Veränderung bei dem schlafenden Knaben. Die Hitze ließ nach. Er wußte jedoch, daß sie nicht zu sehr abflauen durfte, daß er Bror nicht kalt werden lassen durfte. Er rief nach einer Schwester und bat um weitere Decken, die er über Bror legte, während der Tod seine Tagesrufe erklingen ließ, um wie ein Straßenhändler arme Seelen in Versuchung zu führen, bei ihm vorbeizukommen. Laut sagte er: »Das ist der Augenblick, in dem alles gewonnen oder verloren wird.«
Bror öffnete die Augen, kurz nachdem die große Uhr am Koldenhus-Turm sieben geschlagen hatte. Als er Christian sah, der seine Hand hielt, fragte er: »Was ist los? Wo bin ich gewesen?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete der elfjährige König.
Dann stand Christian auf und legte Brors Hand freundlich auf dessen Brust. »Jetzt wird sich die Schwester um dich kümmern«, sagte er. »Ich muß nach Kopenhagen, zum Palast meines Vaters, weil ich seit gestern früh der König aller Reiche bin. Ich werde anordnen, daß du nach Frederiksborg reist, wenn es dir gut genug geht. Gefällt dir das? Wir reiten dann in den Wäldern und angeln im See, wenn er aufgetaut ist.«
»Wird man das denn erlauben?« fragte Bror.
»Ja«, erwiderte Christian. »Ein Befehl ist ein Befehl.«
KIRSTEN: AUS IHREN PRIVATEN PAPIEREN
Im Februar sind gewisse Dinge geschehen, die mir wirklich ganz ausgezeichnet gefallen.
Der König ist weggegangen. Es reicht mir, daß er weg ist, und ich hatte gewiß nicht den Wunsch, mir anzuhören, wohin er geht und warum. Er hat aber die Angewohnheit, mich mit allen Einzelheiten eines jeden Plans, der ihm in den Sinn kommt, zu belasten, und langweilte mich so mindestens eine Stunde mit einer Geschichte über einen Silberfund im Numedal-Gebirge in seinem norwegischen Königreich, wo er sofort hinmüsse, um Männer zu suchen, die den Stein abschlagen, zerstören und sprengen, um das ganze Silber herauszuholen.
Ich sagte zu ihm: »Silber ist sehr hübsch, aber ich möchte wirklich nichts über abgeschlagenen Stein und Männer mit Schießpulver und Spitzhacken hören. Mir ist es lieber, wenn das Silber frisch poliert in Form einer Haarbürste in mein Zimmer kommt.« Es mag ja ganz erbaulich sein, zu wissen, wie man etwas erhält, doch stimmt es einen nicht immer fröhlich.
Diese letzte Bemerkung machte ich auch meinem Herrn und Gebieter gegenüber, doch er als ein Mensch, der immer das Wie und Warum und Wofür von allem auf Erden verstehen muß, bekam sofort einen seiner Tobsuchtsanfälle. Er nannte mich ein eitles und seichtes Gefäß und eine schlechte Mutter. Er beschuldigte mich, an niemandem und nichts außer mir selbst Interesse zu haben. Doch das konnte mich alles nicht beeindrucken. Ich erklärte, nicht verstehen zu können, was mein Widerwille, von den schrecklichen Schächten einer Silbermine zu hören, damit zu tun habe, daß ich eine schlechte Mutter bin. Und hier sah ich nun, daß ich einen Augenblick lang etwas Oberwasser hatte, denn er hielt inne, schüttelte den Kopf und war kurze Zeit sprachlos.
Und so ergriff ich die Gelegenheit, nutzte die Gunst der Stunde und rief mit jämmerlicher Stimme: »Und was das seichte Gefäß betrifft: Frauen wären überhaupt keine Gefäße, wenn die Männer sie nicht so behandeln würden! Wir wären lieber wir selbst und menschlich und nicht bloß ein Gefäß für die Lust der Männer, doch welche Wahl haben wir denn? Und wenn wir in dieser elenden Zeit für seicht befunden werden, dann, weil wir bis zum Rand voll von den Produkten männlicher Lüsternheit sind und es nicht ertragen können, auch nur noch einen
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