Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
sieht erschreckt aus, als habe er schließlich doch keine Antwort auf seine Frage erwartet. »Aha«, sagt er. »Ja. Das hat er also gesagt. Aber seine Methode: Was war seine Methode? Ich wußte es einmal, es ist mir jedoch entfallen.«
»Nun, Euer Majestät«, sagt Peter Claire, »er schlägt vor, daß wir alles als falsch zurückweisen, was wir nicht direkt wissen können. Er meinte damit Dinge, die wir zwar erfahren zu haben glauben, aber nicht nachprüfen können.«
»Jetzt weiß ich, warum ich die Kartesianer vergessen hatte! Denn was ist wirklich nachprüfbar, frage ich Euch? Nur die Mathematik! Zwei und zwei macht immer und ewig vier. Doch wie kann das lösen, was in meinem Kopf brodelt?«
»Das kann es nicht. Doch wenn Ihr nur eine unwiderlegbare Tatsache findet, eine mit der eindeutigen Wahrheit von zwei plus zwei oder des cogito an sich, dann könntet Ihr auf der Basis dieser einen unwiderlegbaren Tatsache – und nur von dieser ausgehend – einen Weg finden durch das, was im Augenblick verwirrend erscheint.«
Daraufhin herrscht in dem Zimmer mit der niedrigen Balkendecke lange Zeit Schweigen. Kein Wolfsgeheul ist zu hören, kein Eulenschrei, kein menschlicher Laut. Das Feuer hat seine frühere Form und Struktur völlig verloren und ist nur noch ein Haufen Asche mit einem roten Glühen in der Mitte.
Der König wendet sich Peter Claire zu und sagt: »Diese eine unwiderlegbare Tatsache ist meine Liebe zu meiner Frau Kirsten. Laßt es uns so nennen: Cogito ergo amo. Ich sah sie zum erstenmal, als sie siebzehn war, in einer Kirche, und ich betete zu Gott, Er möge sie mir schenken, und Er tat es. Ich war achtunddreißig Jahre alt. Sie hatte teefarbenes Haar, eine weiße Haut und einen Mund, der nach Zimt schmeckte. Das dänische Gesetz ließ nicht zu, daß sie meine Königin wurde, doch ich heiratete sie, sobald ich konnte, und es gibt wohl keinen Mann, der süßere oder schönere Flitterwochen als ich verlebt hat.
Ich habe ihr zwölf Kinder geschenkt. Ich bin ihr fünfzehn Jahre lang treu gewesen und habe mich selbst im Dunkel meiner Gedanken nur mit ihr beschäftigt. Wenn ich sie heute sehe, heute in ihr Zimmer gehe, dann nimmt sie mich noch genauso gefangen wie damals, als sie noch nicht meine Braut war. Ich liebe sie wie ein Kind, wie eine gute Mutter, wie eine Mätresse, wie eine Frau. Ich kann Euch nicht sagen, wie oft ich darüber gejubelt habe, daß sie die meine ist. Wenn ich mit der Hand über die Silberadern in den Tälern hier streiche, dann stelle ich mir nicht nur vor, daß ich Dänemarks Staatssäckel wieder fülle, sondern auch Kirstens private Schatztruhe. Wenn meine Gedanken nicht von Staatsangelegenheiten in Anspruch genommen sind, bleibt nur noch meine Sehnsucht, mit Kirsten zusammenzusein, nicht bloß, um sie in den Armen zu halten, sondern auch, um sie liebevoll auf den Schoß zu nehmen, mit ihr in den Obstgärten spazierenzugehen und Cribbage zu spielen oder ihr Lachen zu hören. Und diese Sehnsucht verläßt mich nie.
Doch nun zum Wirrwarr. Ich weiß nämlich, daß mir Kirsten keine Gefühle mehr entgegenbringt. Keine zärtlichen Gefühle. Sie ist nur noch wütend auf mich. Ich darf nicht mehr zu ihr. Manchmal, Gott möge es mir vergeben!, nehme ich sie gegen ihren Willen, mit dem Argument, daß ich ihr König und Gatte bin und sie sich mir nicht verweigern kann. Doch das löst gar nichts. Es hinterläßt einen bitteren Nachgeschmack. Und doch weigert sich meine Liebe zu ihr, mich zu verlassen. Meine Liebe, meine Leidenschaft und meine Sehnsucht. Wenn ich die Wölfe in den Bergen heulen höre, würde ich mich ihnen am liebsten anschließen. Also sagt mir, mein Freund, wenn Ihr es könnt, was ich tun soll.«
Das Feuer ist grau und strahlt keine Wärme mehr aus. An den Fenstern ist Eis. Peter Claire verändert seine Stellung auf dem harten Stuhl und sagt nach einer Weile: »Ich habe wenig Erfahrung auf dem weiten Gebiet der Liebe, Sir. Ich begreife jedoch, daß Liebe auf der einen Seite und fehlende Liebe auf der anderen zwei gegensätzliche Elemente sind. Ich glaube, mein Vater würde sagen, daß wir nicht versuchen sollten, das andere Element zu ändern, weil dies vergeblich ist. Wir müssen danach streben, das Element zu ändern, das wir selbst sind. Wenn wir also feststellen, wie es bei Euch der Fall zu sein scheint, daß unsere Liebe nicht erwidert wird, dann sollten wir aufhören, uns danach zu verzehren, wiedergeliebt zu werden, sondern statt dessen die Liebe in unserem
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