Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
befürchtete, sie könne sich dann gegen mich wenden und mich hassen wie alle anderen in dieser Stadt. Doch ich mußte meine Ängste jemandem eingestehen. Und ich kam zu der Überzeugung, daß sie sich in ihrer großen Freundlichkeit und Loyalität bemühen würde, mich nicht zu verdammen, sondern mir vielmehr bei meinen Problemen zur Seite stehen und versuchen würde, mich zu trösten.
Ich vergoß viele Tränen. »Emilia«, sagte ich, »verhärte dein Herz nicht gegen mich, ich bitte dich! Alle Sterblichen sind schwach, wenn es um die große Sache Liebe geht, und ich bin dem König immer eine treue Frau gewesen und bis jetzt nie vom Pfad der Tugend abgewichen. Doch meine Leidenschaft für Otto und seine für mich sind von einer Art, daß wir sie keinesfalls unterdrücken können, und sieh doch, wie grausam ich nun dafür bestraft werde!«
Emilia sah sehr blaß aus. Gleich nach dem Brief ihres Vaters nun die zweite Schreckensnachricht! Ihre Fahlheit brachte mich auf den Gedanken, die beiden Angelegenheiten zu verknüpfen und Emilia auf diese Art und Weise (ganz raffiniert!) an mich zu binden, so daß wir beide gezwungen sind, einander zu helfen und zu unterstützen.
Ich trocknete mir die Tränen. »Ich will für Marcus alles in meiner Macht Stehende tun«, sagte ich. »Das schwöre ich bei meinem elenden Leben. Doch du mußt mir auch versprechen, mir zu helfen, Emilia, denn ich habe hier sonst niemanden. Du bist meine Frau und ich bin deine einzige Zuflucht, jetzt, da du von deiner Familie getrennt bist. Sag, daß du mich nicht verdammen wirst, und dann werden wir zusammen einen Weg aus diesem Irrgarten trauriger Dinge finden.«
Sie setzte sich auf einen Hocker. »Madam«, sagte sie dann nach einem kleinen Augenblick des Schweigens, in dem sie ihre Stirn sorgenvoll in Falten legte, »ganz gleich, was Euch widerfährt: Ich stehe Euch zu Diensten.«
»Sprichst du die Wahrheit, Emilia?« fragte ich. »Schwör, daß du die Wahrheit sprichst!«
»Ich spreche die Wahrheit«, sagte sie. »Beim Leben meiner Mutter.«
WACHEN IHRER SCHATZKAMMERN
Der Strickerlaß ist nur noch eine blasse Erinnerung. Die goldenen Zöpfe sind verschwunden. Die Königinwitwe Sofie, Christians Mutter, hat sich auf Schloß Kronborg in Elsinore am Kattegat-Sund vergraben, wo sie nur den Kopf heben und übers Wasser schauen muß, um sich Dänemarks altem Feind Schweden gegenüberzusehen, der ihren Blick grau und unnachgiebig zu erwidern scheint. Sie weiß, daß es wieder Krieg geben wird.
Doch was kann sie auf ihre alten Tage noch gegen einen Krieg unternehmen? Was kann sie in der Welt überhaupt noch bewegen? Seit Jahren schon sammelt sie ihre Antwort darauf. Diese liegt in eisernen Gewölben tief unter der Erde, und jeden Morgen macht sich die Königinwitwe Sofie mit einem schweren Schlüssel auf den Weg hinunter, hinab in die Dunkelheit, und öffnet die Tür ihrer Schatzkammer.
Gold hat keinen Geruch, so daß die es umgebende Luft nichts davon preisgibt. Es nutzt sich mit der Zeit nicht ab und verdirbt auch nicht. Und dennoch hat es sich im Laufe all der Monate und Jahre verändert, und zwar auf eine so befriedigende Weise, daß sich die Königin immer wieder wundert, wenn sie darüber nachdenkt: Es steigt im Wert.
Es lagert in Fässern (die Münzen) und Stapeln von jeweils sechs übereinandergelegten Barren (die kompakteste Form, die man durch Einschmelzen herstellen kann). Königin Sofie hat jede Erinnerung daran verloren, was es einst darstellte – an Einkommen, Steuern und Gebühren, Geschenken und Bestechungen, an Bußen und Beschlagnahmungen. Diese Einzelheiten interessieren sie nicht mehr. Sie weiß nur, daß eine Frau in ihrer Lage, der die Macht langsam entwichen ist, ihr Vertrauen auf Wohlstand und nichts anderes setzen muß.
Sie besucht die Gewölbe mit dem Gold immer allein. Keiner ihrer Bediensteten darf auch nur in deren Nähe kommen, und sie wissen auch nicht, wo sie den Schlüssel dafür verwahrt. Wenn die Königinwitwe Sofie in den Gewölben ist, verriegelt sie die Tür und ist von allem anderen auf der Welt abgeschnitten.
Sonst ist sie keine gierige Frau. Im Gegenteil. Sie ernährt sich hauptsächlich von Flundern aus dem Sund. In ihrem Keller liegen zwar ein paar gute französische Weine, doch sie trinkt sie maßvoll, da sie gesehen hat, welche Strafen der Körper für Völlerei und übermäßiges Trinken erleiden kann. Sie erinnert sich nur zu gut der abstoßenden Beschwerden König Frederiks, der sein
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