Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
befohlen worden, mit seiner Tochter zu brechen und so zu tun, als gehöre sie nicht mehr zur Familie. Liebend gern würde ich diesem Herrn Tilsen mit eigenen Händen den Hals umdrehen! Oder ihn aus dem obersten Palastfenster schleudern und zusehen, wie sein Herz unten auf dem grausamen Stein aufplatzt! Wie kann er Emilia nur so behandeln? Mein Entschluß steht fest: Er soll es nicht.
Als mir die vor Entsetzen und Kummer ganz blasse Emilia den Brief zeigte, drückte ich sie an mich, versuchte sie zu trösten und sagte zu ihr: »Emilia, dieser sündige Vater hat seine Rechnung ohne Kirsten Munk gemacht, und das soll er büßen. Wir gehen heute in die Stadt und kaufen einen weiteren Satz Glocken. Diese schicke ich dann durch den Königlichen Boten mit dem Befehl zu deinem Vaterhaus, sie in dessen Gegenwart deinem Bruder zu geben und diesen darüber zu informieren, daß sie von dir sind.«
Emilia versuchte zu sprechen und brachte schließlich heraus: »Ach nein, Madam, das dürft Ihr nicht!« Doch ich fiel ihr ins Wort und erklärte: »Ich werde noch mehr tun! Von jetzt an schicken wir Marcus jede Woche ein Geschenk! Wir schicken ihm Spielzeug, Reifen und lehrreiche Bücher. Wir schicken ihm Kätzchen und Vögel und zahme Schlangen. Wir schicken ihm Hüte und Spangen und Holzschuhe. Kein Samstag soll vergehen, an dem er nicht ein Geschenk oder ein paar liebe, tröstende Worte aus deiner Feder erhält.«
Emilia blickte zu mir auf, als sei ich ein Wunder, wie sie es noch nie zuvor auf Erden gesehen hatte. Sie wußte nicht, was sie sagen sollte, und so fuhr ich fort, da mein Kopf randvoll mit Plänen war, ihren Vater zu bestrafen und ihm zu zeigen, daß kein Vater seine Tochter ungestraft so aus dem Haus treiben kann.
»Ich habe noch eine Idee«, sagte ich. »Meine Mutter Ellen Marsvin ist eine Nachbarin deines Vaters. Sie war es auch, die dich gefunden und als meine Frau in meine Dienste gestellt hat, das weißt du ja. Nun denn, ich werde von meiner Mutter verlangen, in dieser Angelegenheit mein und dein Spion zu sein. Sie soll dem Haus deines Vaters ein paar Besuche abstatten und uns dann berichten, wie die Dinge stehen und in welchem Zustand sich Marcus befindet. Sollte sie dabei herausfinden, daß es um ihn sehr schlecht bestellt ist, dann erteilen wir einfach den Befehl, ihn nach Rosenborg zu bringen, und dann ziehen wir ihn hier zusammen mit meinen eigenen Kindern auf. Dann siehst du ihn jeden Tag, und er bekommt die Gewißheit, daß du in dieser Welt und keiner anderen bist!«
Ich kochte dermaßen vor Wut auf diesen degenerierten und widerwärtigen Johann Tilsen, daß ich merkte, wie ich ohnmächtig wurde und auf mein Bett sinken mußte, wo Emilia mich mit einem Pfirsichlikör wiederzubeleben versuchte. Wir weinten zusammen und klagten bitterlich über die Macht der Männer, und dann gingen wir zu der anderen Sache über, die mir jetzt Sorgen bereitet, und zwar die Rückkehr des Königs.
Ich bin voller böser Vorahnungen.
Ich bin so zartbesaitet, daß es mein Verstand zuwege bringt, das, was ihm am meisten Entsetzen einflößt, zu verdrängen – als sei es unter Schnee vergraben. So hatte ich jeden Gedanken daran erstickt, was nach der Rückkunft des Königs nach Kopenhagen aus mir und meinem Taumel mit Otto werden sollte. Es war, als hätte ich beschlossen, daß er nie zurückkehren würde, sondern für immer im Numedal bleiben und dort, wenn seine Zeit kam, sterben und so nie wieder in meiner Nähe sein, mich nie wieder berühren und nie wieder meinen Namen sagen würde.
Ich hatte mich jedoch geirrt. Er wird wieder zu Hause sein, bevor noch richtig Sommer ist. Und es ist nicht nur die Furcht vor Ottos Abwesenheit, die mich quält. Es gibt da noch etwas Ernsteres. Die Zeit meiner Menses ist gekommen und wieder vorbeigegangen, ohne daß es ein Anzeichen davon gab. Ich fürchte, ich trage Ottos Kind unter dem Herzen. Und wenn das so ist, wie soll ich das dann mit dem König hinbekommen, den ich viele Wochen und Monate nicht in mein Bett gelassen habe? Wenn die Linden ausschlagen, werde ich dick sein. Und so erfährt es der König doch noch, daß ich einen Geliebten habe. Und ich werde hinausgeworfen. Oder, schlimmer noch, ich nehme ein schreckliches Ende. Die Adligen werden ohne Ausnahme die Stimme gegen mich erheben, und es wird die Petition ergehen, mich zum Tode zu verurteilen.
All dies, beschließe ich, gestehe ich nun Emilia.
Ich wollte eigentlich nicht, daß sie das von Otto erfährt, weil ich
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