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Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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Verdauungssystem mit Alkohol und Wild ruiniert hatte und im Sterben seinen eigenen Kot erbrach. Sie weiß auch, daß ihr Sohn, König Christian, ebenso empfindliche Eingeweide hat und genauso verrückt nach schwerem Fleisch und starkem Wein ist. So betet sie bei ihren einsamen Mahlzeiten, er möge nicht vor ihr sterben und sie der Gnade eines energielosen Enkels überlassen, den sie nicht liebt.
    In letzter Zeit sind Königin Sofies Gebete eindringlicher geworden. Sie hat bei Christian Veränderungen bemerkt, die während seiner verheerenden Kriege aufgetreten und nicht wieder verschwunden sind. Etwas in seinem Leben gerät aus der Bahn. Seine Gesichtszüge – die noch nie so rein und scharf wie sein Verstand waren – gleichen nun einem zusammengefallenen Kuchen, in den Elend eingerührt worden ist. Dieses Elend quillt ihm aus den Augen und fließt ihm die Furchen seiner Wangen hinunter.
    Die Adligen und ihre Frauen, die wenigen, deren Einladung auf Schloß Kronborg man Königin Sofie zumuten kann, machen oft Bemerkungen über das unerträgliche Benehmen Kirsten Munks und die unglaubliche Nachsicht des Königs seiner Frau gegenüber, die ihre Bediensteten anschreit, auf ihre eigenen Kinder eifersüchtig ist, in der Öffentlichkeit betrunken hinfällt und keinerlei Scham zeigt. Königin Sofie schüttelt dann den Kopf. »Ja«, stimmt sie zu, »Kirsten benimmt sich nicht gut. Es ist, als versuche sie auf immer wieder neue Art – und jede davon unfein – zu begreifen, warum sie lebt.«
    Doch in ihrem Innern weiß sie, daß ihr Sohn dieser wilden Kirsten sein Herz so fest geschenkt hat, als habe diese es herausgeschnitten und verzehrt, und daß er sie nie verstoßen wird, wie sehr sie auch seine Geduld strapaziert.
    Die Königinwitwe Sofie seufzt, als sie an Kirstens Launenhaftigkeit und die Traurigkeit und Sehnsucht in den Augen ihres Sohnes denkt, wenn er die Hand nach ihr ausstreckt, um sie auf den Schoß zu nehmen: »Komm zu mir, mein süßes Mäuschen! Komm!« Sie seufzt, weil ihr klar ist, daß es nichts gibt, was sie oder sonst jemand tun kann, um an diesem Stand der Dinge etwas zu ändern. Wenn eine Frau eines Mannes überdrüssig ist, dann ist sie seiner überdrüssig und wendet sich von ihm ab und anderen Dingen zu, und damit basta.
    Auch sie hatte sich, als sie allmählich der Schlemmerei König Frederiks und seines dummen Kopfnickens, wenn er sich mit Wein hatte vollaufen lassen, überdrüssig wurde, von ihm abgewandt und ihn nie wieder mit mehr als einem winzigen Teil ihres Ichs geliebt. Und wo suchte sie Trost? Sie nahm sich keine Liebhaber. Sie gab sich nicht Gott hin. Sie begann Gold zu horten.

    Ellen Marsvin, Kirsten Munks Mutter, lebt jetzt auch allein, und zwar auf Schloß Boller in Jütland. Johann Tilsens Obstfelder grenzen an ihre Ländereien.
    Wie Königin Sofie war Ellen in ihrer Jugend eine schöne Frau. Jetzt ist in den einst vor kokettem Feuer strahlenden Augen nur noch Intelligenz und Schlauheit sichtbar. Sie weiß, wie sehr alternde Frauen in einer Welt, in der sich alles um Jugend und Macht dreht, vernachlässigt und verachtet werden. Ihrer Meinung nach müssen Witwen agil und gewitzt sein, wenn sie überleben wollen. In Gedanken ist sie ständig mit Komplotten und Strategien beschäftigt.
    Ihre Schatzkammer ist die Küche. Im Sommer weckt sie den großen Obstvorrat ein, den sie von Johann Tilsen kauft: Blaubeeren, Wacholderbeeren, Erdbeeren, Brombeeren, rote und schwarze Johannisbeeren, Himbeeren, Stachelbeeren und Schlehenfrüchte. Im Winter macht sie Marmelade daraus. Wenn sie dann mit den Zuckersäcken und brodelnden Kesseln hantiert, schießen ihr neue Ideen für ihr Überleben durch den Kopf (um den sie ein Leinentuch gewickelt hat, damit ihr der Dampf nicht die Frisur verdirbt). »Sei wachsam!« lautet ihr Motto für sich selbst. Und danach richtet sie sich.
    Sie kennt die Wahrheit über ihre Tochter: Kirsten ist des Königs überdrüssig und in den Grafen Otto Ludwig von Salm verliebt. Und dieser Stand der Dinge ist gefährlich. In ihrem Verlangen, ihren Mann loszuwerden, kann sich Kirsten ernsthaft in Gefahr bringen – sich und ihre Familie, das Boller-Anwesen, ihren Schmuck und ihre Möbel: einfach alles. Es kann samt und sonders verlorengehen, sogar die Marmelade.
    Ellen Marsvin ist seit ihrer ersten Ehe mit Ludwig Munk steil aufgestiegen, und sie hat nicht vor, in ein mittelmäßiges Leben zurückzufallen. So versucht sie schon auszuloten, wie sie sich – wenn es zu einer

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