Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Trennung zwischen Kirsten und dem König kommen sollte – trotzdem für Christian unentbehrlich machen könnte. Sie hat nur einen Schlüssel für ihre Pläne: Voraussicht. Sie weiß, daß sie beim Festlegen ihrer Strategien immer danach streben muß, nicht nur das klar zu sehen, was ist, sondern auch das, was sein wird.
Und so antwortet Ellen ihrer Tochter auf einen langen Brief, in dem sie diese um einen Gefallen bittet – einen Besuch bei den Tilsens, um herauszufinden, wie das jüngste Kind behandelt wird –, mit den folgenden Zeilen:
Meine liebe Kirsten,
was! Soll ich etwa für Dich und Emilia bei den Tilsens spionieren?
Meine Liebe, es überrascht mich sehr, daß Du mich um so etwas bittest! Doch Du hast Dich sicher daran erinnert, daß Spione nicht billig sind, und so werde ich mich, wenn ich den von Dir gewünschten Besuch mache, frei fühlen, dafür um eine ordentliche Entschädigung zu bitten. Die Aufgaben eines Spions sind äußerst unangenehm und gefährlich, und ich hoffe, Du wirst mir das, was ich dafür verlangen werde, nicht abschlagen.
Dann schickt sie, ohne Näheres zu offenbaren, ein paar Zeilen an die Tilsens und lädt sich zum Mittagessen ein. Sie schreibt Johann, sie wolle ihre Bestellung für die nächsten Sommerfrüchte vorbeibringen. Und so reitet sie an einem Frühlingsmorgen mit einem winzigen silbernen Topf Blaubeermarmelade für Marcus hinüber.
Von Marcus weit und breit keine Spur.
Die anderen Knaben sehen gut aus und scheinen bester Laune zu sein. Magdalena Tilsen ist hochschwanger, Johann herzlich. Zum Mittagessen gibt es Wildpastete.
Als Ellen erzählt, wie sehr ihre Tochter Emilia mag, nicken alle zustimmend, und Magdalena sagt: »Eigentlich wollte Johann, daß Emilia nur für ein Jahr von ihrer Familie getrennt ist. Doch da die Gemahlin des Königs nun offenbar so sehr an ihr hängt, söhnt uns das mit dem Gedanken aus, sie für länger zu verlieren.«
»Ja«, fügt Johann hinzu, »wir vermissen sie natürlich. Doch die Ehre, die es uns bringt, daß sie im Dienst Eurer Tochter steht, wiegt stärker als alle anderen Überlegungen.«
Nach dem Essen geht Ellen mit Johann in ein anderes Zimmer, um über die Obstmengen zu sprechen, die im Laufe des Sommers zum Schloß Boller gebracht werden sollen. Beim Anfertigen der Listen holt sie nun schließlich ihren silbernen Marmeladetopf hervor und legt ihn zwischen sich und Johann Tilsen auf den Tisch.
»Ach!« sagt sie. »Den hätte ich fast vergessen! Es ist ein kleines Geschenk für Marcus, da er aber nicht mit am Tisch saß, ist es mir entfallen. Er ist doch nicht etwa krank?«
Johann hebt den Blick nicht von der Aufstellung.
»Er hat schlechte Tischmanieren, Fru Marsvin. Wir versuchen sie zu verbessern, leider jedoch ohne Erfolg. Deshalb ißt Marcus in seinem Zimmer, wenn wir Besuch haben.«
»Oh«, sagt Ellen und nimmt den kleinen Topf wieder an sich. »Ich bin ja so froh, daß er nicht kränkelt. Denn dann kann ich ihn ja noch sehen, bevor ich gehe, um ihm das hier zu geben.«
Nun sieht sie Johann Tilsen an. »Gebt mir den Topf! Ich werde sicherstellen, daß er ihn bekommt und erfährt, daß er von Euch ist.«
»Aber nein! Ihr werdet mir doch wohl nicht einen Besuch bei Marcus abschlagen? Wo ich eine solche Schwäche für kleine Kinder und ihre netten Eigenheiten habe!«
»Marcus’ Eigenheiten sind nicht nett.«
»Wirklich? Ich erinnere mich noch gut daran, wie er mit Emilia so glücklich auf seinem Pony …«
»Emilia hat ihn verwöhnt. Und wir müssen es jetzt ausbaden.«
»Nun, kümmern wir uns nicht um seine Eigenheiten, Herr Tilsen. Ich würde ihn sehr gern sehen.«
»Es tut mir leid«, antwortet Johann. »Das geht nicht. Er hat Fieber und schläft.«
»Fieber? Sagtet Ihr nicht gerade, er sei nicht krank?«
»Leichtes Fieber. Es wird vorübergehen, doch er braucht Ruhe und darf nicht gestört werden. Er bekommt Eure Marmelade, sobald er wieder gesund ist.«
Also schreibt Ellen an Kirsten:
… obwohl ich darauf zu bestehen versuchte, erlaubte mir Johann Tilsen unter keinen Umständen, einen Blick auf Marcus zu werfen. Auch später, als ich wieder ging, war im Haus und Garten nichts von ihm zu sehen. Ich wittere ein Geheimnis. Ist das Kind nun krank oder nicht? Leider konnte ich dies bei meinem Besuch nicht feststellen. Da ich aber schnell erkannt hatte, daß ich die Tilsens noch einmal aufsuchen muß, um für Dich und Emilia aufzudecken, was verborgen gehalten wird, gab ich, vertieft ins Aufstellen der
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