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Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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Fenster, wo ich die dicken Vorhänge vor den Sommerabend zog. Dann ging ich zur Tür und schloß sie ab.
    In Englisch, der einzigen Sprache, die Samuel und Emmanuel bis jetzt verstehen – abgesehen von ihrer eigenen, die sehr merkwürdig und schön ist –, befahl ich den Knaben, die Platten hinzustellen und sich ganz auszuziehen. Ich sagte es sehr freundlich und lächelte sie dabei die ganze Zeit an, weil sie keine Angst bekommen sollten, daß ich sie schlagen oder irgendwie verletzen wollte.
    Sie taten so, als würden sie nicht verstehen, was ich von ihnen verlangte, doch ich wiederholte meinen Befehl, setzte mich hin und wartete auf meinem Stuhl, während sie langsam ihre Samtröcke, Satinwesten, juwelenbesetzten Turbane, bunten Schuhe, Spitzenhemden, seidenen Kniehosen und Strümpfe auszogen.
    Dann standen sie in ihrer Unterwäsche vor mir. Bestimmt waren sie als Kinder nackt in der wilden Brandung ihrer Insel herumgelaufen, doch später war ihnen an König Charles’ Hof in London zweifellos beigebracht worden, sich immer bedeckt zu halten und nie unbekleidet in einem Zimmer zu stehen, nicht einmal, wenn sie allein waren.
    Ich gab ihnen zu verstehen, daß sie ihre Pantalons aus Baumwolle ausziehen sollten. Sie beugten sich also hinunter, um dies zu tun, und als sie wieder hochkamen, standen sie in ihrer ganzen dunklen, strahlenden Schönheit vor mir. Ich sah, daß sie große und männliche Glieder hatten, und der Wunsch, die Hand auszustrecken und sie zu berühren, war in mir so stark, daß ich den Schmerz in mir verspürte, der mich immer befällt, wenn ich von Otto träume.
    Ich wußte, daß ein Geist der Verderbtheit im Raum lag. Dieser spielt schon mein ganzes Leben, seit meiner Kindheit mit mir. Ganze dreißig Jahre hatte er mit mir gespielt, mich verhöhnt und mir keine Ruhe gegönnt.
    Einen Augenblick lang dachte ich, er würde mich wieder bezwingen. Ich wußte, daß sich meine Sklaven, ganz gleich, welch lüsternen Befehl ich ihnen geben mochte, zwingen würden, mir zu gehorchen, weil sie Angst hatten, mittellos in die Welt gestoßen zu werden, und ließ daher meine Gedanken eine Weile in einem herrlichen Saft fleischlicher Vergnügungen schmoren.
    Doch am Ende äußerte ich meine Gedanken nicht. Sie lagen mir schon auf den Lippen, doch etwas hielt sie zurück. Und ich möchte behaupten, daß es Emilia war. Denn mir wurde bewußt, wie sehr ich mich später in ihrer unschuldigen Gesellschaft nach einem Übergriff auf die Körper meiner Sklaven schämen würde. Daher nahm ich Abstand von der Verderbtheit, dankte Samuel und Emmanuel »für eure anmutige Form und Gestalt, dergleichen ich noch nie zu Gesicht bekommen habe«, und sagte ihnen mit der Freundlichkeit einer Mutter, sie sollten sich wieder anziehen.
    Wenig später, als ich aufgeschlossen hatte und Samuel und Emmanuel gegangen waren, kam Emilia und fragte mich, ob sie mit mir vor Einbruch der Nacht noch Würfel oder Karten spielen solle. Plötzlich sah sie mich aufmerksam an und meinte: »Oh, Madam, Ihr habt ja einen ganz roten Kopf! Ihr werdet doch nicht etwa Fieber haben?«
    »Ja«, erwiderte ich. »Ich glaube schon. Ich neige sehr zu solch plötzlichen Fieberanfällen, doch sie gehen vorüber. Nach einer Weile, Emilia, gehen sie immer vorüber.«

EIN KLEINES, STAUBIGES KARREE
    Peter Claire geht allein in Kopenhagen spazieren.
    Er versucht, in der lärmenden Geschäftigkeit der Stadt, dem Geratter der Karren und Wagen auf den Steinplatten, dem Geschrei der Marktbeschicker, dem Flattern der Vögel und den Glockenspielen der Kirchturmuhren Antworten auf die hundert Fragen zu finden, die ihn beschäftigen.
    Er läuft nach Nordosten, zum Wasser hin. Wie immer wird er von allen angestarrt. Die Blicke der Männer sind neugierig und verwirrt, die der Frauen werden weich, verzückt und nachdenklich. Es ist nicht ungewöhnlich, daß die Leute stehenbleiben und versuchen, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, indem sie vorgeben, ihn zu kennen oder mit einem ehemaligen Freund verwechselt zu haben. Als er diesmal durch die Menge schlendert, klammert sich eine Bettlerin mit ihrer schmutzigen Hand an ihn und flüstert ihm zu: »Die Goldenen haben das kürzeste Leben! Kauft Euch frei davon!« Er gibt ihr eine Münze und beschleunigt seinen Schritt.
    Nun steht er am Kai und sieht, wie die Seemöwen über dem Hafenbecken kreisen und ein warmer Südwind die Boote neigt und leise an ihren Ankern reißt. Es erinnert ihn an Harwich: die salzige Luft, die Echos der

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