Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
nicht bis zum Juni im Numedal? Daher können wir mit großer Genauigkeit bestimmen, wann das Baby gezeugt wurde, und müssen nur neun Monate dazurechnen, um auf das Geburtsdatum zu kommen.«
»Trotzdem muß ich«, sagte der Doktor, »die Untersuchung, wie befohlen, durchführen.«
Ich ließ meinen Blick auf den Instrumenten ruhen. Indem ich eine noch größere panische Angst vor diesen vortäuschte, als ich schon empfand, begann ich zu schwanken und zu fallen. »Nein!« hörte ich mich schreien. »Das kann ich nicht zulassen! Ich schwöre Euch, daß ich eine Fehlgeburt erleide, wenn Ihr das tut …«
In diesem Augenblick kam der König herein. Als er mich ohnmächtig werden sah, rannte er zu mir, fing mich auf und rief nach dem Riechsalz. Da ich wußte, daß alles von diesem Augenblick abhing, tat ich so, als liege ich bewußtlos in seinen Armen, bis ich das Riechsalz einatmete. Dann öffnete ich die Augen, klammerte mich an meinen Mann und sagte: »Oh, mein liebster Herr, hilf mir! Setze nicht das Leben des Kindes aufs Spiel, indem du dem Arzt erlaubst, kaltes Metall in meinen Körper zu schieben!«
Der König drückte mich an sich und sagte: »Dann habe ich es also nicht geträumt?«
»Was geträumt?«
»Daß du zu mir gekommen bist und mir von dem Kind erzählt hast …«
»O nein, das Kind ist wirklich und kein Geist oder Traum! Aber bitte, ich flehe dich an, schick den Arzt weg!«
Ich hing am Hals des Königs, als wäre ich sein schwächliches Kind und er mein böser, inzestuöser Papa. Und ich weiß, daß ich ihn auf diese Art dazu bringen kann, fast alles zu tun, was mir einfällt. Es dauerte nicht lange, und ich hörte den Arzt das Zimmer verlassen und die Tür hinter sich schließen.
So geht der Sommer mit seiner Hitze und Fliegenplage ins Land. Mein Bauch wird allmählich zu einem kleinen Ballon, und mir tun die Beine weh. Wäre es das Kind des Königs und nicht meines Geliebten, würde ich mir bestimmt bei Herrn Bekker einen tödlichen Trank besorgen, um es loszuwerden. Da es aber Ottos ist, kann ich ihm nichts antun. Es wurde in einem Moment des Taumels gezeugt, und ich habe die Vorstellung, daß es auf zitternden Blütenfittichen aus mir herausgetragen wird.
GERDA (I)
Emilia Tilsen steht im Keller und blickt auf die Hühner.
Sie drängen auf sie zu und stecken ihre Schnäbel durch das Käfiggitter. Auf dem staubigen Boden sieht sie ein einsames Ei. Sie hat Getreidekörner und einen Krug Wasser mitgebracht.
Sie öffnet die Käfigtür, geht hinein und streut die Körner hin. Ihr gefällt das Gefühl der gefiederten Körper um ihren Rock herum, weil es sie daran erinnert, wie sie als Kind mit Karen nach Eiern gesucht hat, die unbekümmert auf den Wiesen und in den Hecken gelegt worden waren, und wie sie sich dann immer freuten, wenn sie welche fanden, und Karen sagte: »Gut gemacht, mein Pfirsich!«
Die Hühner hier unten sind graubraun gesprenkelt und haben weiße Halsfedern. Ihre Köpfe nicken auf der Suche nach den Körnern ruckartig. Als Emilia fertig ist und gerade gehen will, fällt ihr auf, daß sich eine der Hennen nicht bewegt hat, sondern nur im Staub sitzt und sie mit umwölkten gelben Augen ansieht. Emilia geht in die Hocke, wobei sie ihre Röcke um sich herum faltet, um sie aus dem Schmutz herauszuhalten, und sieht sich das Tier an. Karen hatte einmal vor langer Zeit in Jütland eine krankes Huhn mit gekochten Nesseln gesund gepflegt. Es lebte eine Zeitlang im Haus und flog ihnen, als es ihm besserging, öfters beim Essen auf den Tisch. Sie nannten es Gerda. Johann schalt es, er wünsche Hühner nur in gerupftem und gebratenem Zustand auf dem Eßtisch zu sehen.
Wegen dieser Erinnerung an Gerda hebt Emilia die gesprenkelte Henne nun, ohne zu zögern, auf, klemmt sie sich unter den Arm und trägt sie aus dem Keller. Sie nimmt sie in ihr Zimmer mit – nicht in das neben Kirsten, wo sie jetzt oft schläft, sondern in das spärlich eingerichtete obere, das man ihr bei ihrer Ankunft auf Rosenborg gegeben hatte. Sie holt ein Bündel sauberes Stroh aus dem Stall und macht für das Huhn in einer Zimmerecke ein Nest. Im Vergleich zum Keller ist der Raum hell, und das Tier wendet den Kopf immer wieder zum Fenster, als sei der Himmel ein ihm unbegreifliches Phänomen. Emilia ist von der Verwirrung des Huhns so gerührt, daß sie ihm den Hals streichelt. »Gerda!« flüstert sie. »Gerda …«
Und dann fällt sie in eine Art Wachtraum. Sie ist hellwach und hört tief unten im Hof Stimmen
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