Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
und im Zimmer eine ruhelose Fliege, die sich immer wieder woanders niederläßt, doch in ihrem Kopf entsteht plötzlich eine phantasierte Zukunft.
Sie ist die Frau des englischen Lautenspielers geworden. Sie und Peter Claire leben in einem grünen Tal, das sie noch nie zuvor gesehen hat. Ihr Haus ist voller Licht. Kinder klammern sich lachend an ihre Röcke, und sie nimmt sie an den Händen und bringt sie zu einem schönen Zimmer mit einem polierten Holzboden, wo Peter Claire und seine Freunde eine so sanfte und melodiöse Musik spielen, daß die Kinder ganz ernst und leise werden und sich auf den Boden setzen, um zuzuhören. Sie setzt sich neben sie, und keiner rührt sich.
Der Traum ist so außergewöhnlich, so voller Wunder, daß Emilia ihn zu verlängern versucht. Sie stellt sich vor, wie die Musik aufhört, der Lautenist durchs Zimmer auf sie zukommt und sie und die Kinder in die Arme nimmt. Und da ist Marcus! Er ist ein bißchen älter – vielleicht sechs oder sieben – und treibt ein Wagenrad durchs Zimmer, bevor er in den Garten hinausrennt, wo sein braunes Pony mit seinem Zaumzeug mit den Glocken wartet.
In dem Traum scheint es keinen Tod zu geben. In dem Haus herrscht Ordnung und Harmonie, und offenbar befürchtet niemand, daß all dies plötzlich verschwinden könnte. »Aber«, sagt sich Emilia, als ihr der Traum zu entgleiten beginnt, »es ist nicht wirklich. Es ist alles sentimentale Illusion. Es sollte in deinem Kopf überhaupt keinen Platz haben.«
Rasch steht sie auf und geht in den Park hinaus, um nach Brennesseln zu suchen.
Doch jetzt, nachts und auch sonst – mitten in einer Mahlzeit oder einem Cribbage-Spiel – kehren ihre Gedanken zu dem zurück, was Peter Claire im Keller gesagt hat. Er hat erklärt, daß er etwas für sie empfindet. »Liebe«, hat er gesagt, »scheint das richtige Wort dafür zu sein.« Warum war sie nicht geblieben, um mehr darüber zu hören, um zu versuchen, an seinen Augen und Gesten zu erkennen und abzulesen, ob er es aufrichtig meinte? War ihre sofortige Annahme, ein Mann, der so gut aussah wie er, müsse ein Lügner sein, nicht zu voreilig und unfreundlich gewesen? Warum hatte sie sich gezwungen, so kurz mit ihm zu sein, obwohl doch alles, was er gesagt hatte, höflich und zartfühlend gewesen war und sie sich danach sehnte, jede einzelne Silbe davon zu glauben?
Sie ist von sich selbst enttäuscht. Gewiß, sie hat keine Ahnung, wie man sich in einer solchen Situation verhält. Sie ist ein unhöfliches, dummes Mädchen, das von der Welt der Männer und Frauen nichts weiß außer dem, was sie bei sich zu Hause und hier am Hof gesehen hat. Überall liegen da Lügen und Intrigen in der Luft. Doch das war doch sicher nicht in allen Haushalten Dänemarks so? Warum sollte die Erklärung einer unausweichlichen Liebe falsch sein? Wie könnte ein Werben überhaupt vorangehen, wenn dies eine universelle Wahrheit wäre?
Emilia rührt ihren Nesseltrank in einer Tasse um. Ein bißchen davon saugt sie nun in einen trockenen Strohhalm, wie sie es einst bei Karen gesehen hat, öffnet dem Huhn den Schnabel und tröpfelt ihm etwas von der Flüssigkeit in den Hals. Diese mühsame Prozedur wiederholt sie so lange, bis es einen halben Zoll des Nesseltranks hinuntergeschluckt hat. »Gerda!« murmelt sie.
Es ist Kirsten, der Emilia schließlich anvertraut, was im Keller geschehen ist und daß sie sich in einem Augenblick der Träumerei dummerweise erlaubt hat, sich eine schöne Zukunft mit dem Lautenisten auszudenken.
»Mit was für einem Lautenisten?« fragt Kirsten verärgert. »Wir hatten hier zwar jahrelang einen, doch der war schon recht alt und liegt inzwischen bestimmt im Grab. Den meinst du doch hoffentlich nicht, Emilia?«
Emilia beschreibt Kirsten Peter Claire und sieht, wie dieser die Augen hervortreten. »Nun«, sagt sie, »ein solches Musterbild habe ich auf Rosenborg noch nicht gesehen – allerdings gehe ich auch nicht mehr in die Konzerte. Sie sind einfach zu langweilig, und ich habe nur so getan, als ob ich die Musik liebe, als der König um mich warb. Bist du ganz sicher, daß du nicht alles nur geträumt hast?«
»Ja«, antwortet Emilia. »Ich habe nicht alles nur geträumt, nur den Teil, der nicht geschehen ist …«
Kirsten steht auf und sieht aus dem Fenster. Sie geht allmählich langsamer und umfängt ihren Leib, als ziehe er sie schon nach unten. Als sie sich wieder umdreht, meint sie: »Hüte dich vor den Schönheiten, Emilia! Ich habe noch keinen
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