Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
den Knien hielt und ihnen im Kerzenschein leise Geschichten erzählte, hatte immer eine besänftigende Wirkung auf König Christian. Oft setzte er sich zu ihr, lauschte ihrer ruhigen Stimme und erkannte, daß dies eine andere Art war, die Welt anzusprechen, und daß selbst ein König noch etwas aus einer gewissen Ruhe lernen konnte.
Sie bat ihn, in Kopenhagen ein schönes Observatorium zu errichten. Sie sagte, sie habe von einem runden Turm geträumt, der im Innern eine Straße aus Ziegelsteinen hatte, die breit genug für einen Zweispänner war. Sie sei wie eine Spirale nach oben zu einer Plattform verlaufen, von der aus sie den Mond betrachten konnte.
»Warum willst du den Mond betrachten?« fragte er sie.
»Ich möchte alles betrachten, was Gott gemacht hat«, erwiderte sie. »Ich habe noch nie ein Dromedar oder einen Vulkan oder eine Palme oder einen Paradiesvogel gesehen. Sollte ich lange genug leben, würde ich mir diese Dinge auch gern anschauen.«
So ließ der König Zeichnungen für den Turm anfertigen, da ihm der ungestüme Gedanke der spiralförmigen Straße gefiel und er sich schon das Klappern und Rutschen der Hufe auf dem steilen Kopfsteinpflaster vorstellen konnte.
Doch die Architekten zerbrachen sich zu lange den Kopf darüber. Das Gewicht einer solchen Straße mit einer solchen Breite, sagten sie, würde für den Mittelpfosten immer zu groß sein. Er schickte sie wieder an ihre Zeichnungen. Das Wort »immer«, sagte er zu ihnen, ist nicht zulässig. Für alles auf der Welt gibt es eine Lösung, auch hierfür.
Doch die Jahre gingen ins Land. Entwürfe für Strebebögen kamen und gingen. Der Turmumfang wurde kleiner, dann wieder größer. Die dänischen Architekten wurden entlassen und holländische Konstrukteure bei doppelter Bezahlung eingestellt. Es gab verrücktes Niederlandegerede von »schmalen Kutschen« und »schmalen Pferden«. Doch jedesmal, selbst auf den eleganten holländischen Zeichenbrettern, stimmten die Berechnungen nicht, und König Christian mußte Anna Katharina sagen, daß es mit dem Turm noch nichts wurde.
»Wann?« fragte sie dann höflich. »Wann wird es was mit ihm, mein Lieber?«
Er wollte sie zufriedenstellen, weil sie ihn in aller Stille glücklich machte. Er rühmte überall ihre Vernunft und Gutherzigkeit. Manchmal schrieb er an ihren Vater, der nach Schießpulver roch, und an ihre Mutter, die ein Gesicht wie ein Vogel hatte, sentimentale Dankesbriefe, die er aber nicht abschickte. Am Ende konnte er aber Anna Katharina nicht ihren runden Turm geben. Sie starb im Jahre 1611 im Alter von siebenunddreißig Jahren, ohne je von ihrem Observatorium zum Mond geblickt zu haben oder in der Wüste ihrer Phantasie dem Dromedar begegnet zu sein.
Christian beweinte ihren Tod lange Zeit.
Es war ein Tod, der ganz allmählich zu kommen schien, ohne jeden Grund. Er begann mit einer Melancholie, die sich in ihren grauen Augen zeigte, die einen gequälten Ausdruck annahmen. Sie gab das Reiten und ihre Spaziergänge in den Wäldern von Frederiksborg auf. Dann wurde sie dünner und kleiner, als fließe alles Hohenzollernblut allmählich aus ihren Adern. Und sie wurde den Freuden und Kümmernissen ihrer Kinder gegenüber merkwürdig unaufmerksam.
Am Ende krümmte sie sich. Ihr ganzer Körper beugte sich zum Boden. Und als Christian dies sah und merkte, daß sie ihre Wirbelsäule nicht gerade- und ihren Kopf nicht hochhalten konnte, sosehr sie sich auch bemühte, wußte er, daß es die »Schwere« der Erde war, die noch niemand richtig verstanden hatte, die ihren Rücken herunterzog.
Der alte Mops Anders/Joachim, der jetzt pfeifend atmete, schlecht roch und zu immer heftigeren Niesanfällen neigte, die ihn selbst im Schlaf störten, hielt an Anna Katharinas Bett Wache und verließ sie nicht. Im Tod war ihr Gesicht nicht weißer als an ihrem Hochzeitstag, sondern nur so bleich und leuchtend, wie es immer gewesen war, als habe ihm der Mond als Ausgleich für das Observatorium, das nie erbaut worden war, auf Dauer etwas von sich selbst verliehen.
AUF ELSINORE
Die Königinwitwe Sofie betrachtet in einem silbernen Spiegel ihr Gesicht. Dessen Haut verhärtet sich. Sie hat jetzt Furchen und Muster – Muster, die sie selbst nie entworfen hätte und zu denen sie nie gefragt wurde. Sie legt sich ein wenig Schminke auf die Wangen und weißen Puder auf die Nase, und ihre dünnen Lippen bewegen sich still, verfluchen die Zeit, den arroganten Architekten ihres veränderten Aussehens.
Sie war
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