Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
und Würmern.
Die Unmöglichkeit, einen wahren Hafen für ihr Gold zu finden, quält sie sehr. Menschenaugen sehen alles. Alles und nichts. Dänemarks Elend beruht bestimmt auf der Blindheit und dem nachlassenden Willen der Bürger. Ihre eigenen unmittelbaren Bedürfnisse und Wünsche versetzen sie in eine Trance der Unentschlossenheit.
Königin Sofie stützt den Kopf in die Hände und spürt ihre Schädelknochen. Die Schlüssel ihrer Schatzkammer fühlen sich auf der gerunzelten Haut ihrer Brüste hart und kalt an, so hart und kalt wie ihre unnachgiebige Entschlossenheit.
DER KUSS
Auf Rosenborg steht hinter dem Gemüsegarten das Vogelhaus des Königs. Es ist groß, luftig und aus Eisen. Goldene Fasane ergehen sich darin, als wollten sie es mit ihren nachgezogenen Schwanzfedern immer wieder von neuem ausmessen. Hoch über ihnen fliegen Dompfaffen, Goldammern, Stare und Papageien, und auf seinem kunstvollen Dach flattert ein Schwarm weißer Tauben.
Emilia hat schließlich zugestimmt, hier, im spitzenartigen Schatten des Vogelhauses, Peter Claire zu treffen. Und so wartet er nun und beobachtet die Vögel, halb jedoch in die Richtung gewandt, aus der Emilia kommen wird. Es war warm am Nachmittag, doch jetzt um fünf Uhr liegt jene schwache, glitzrige Kühle in der Luft, die den Herbst ankündigt und den Herzen der Menschen von Ende und Abschied spricht.
Peter Claire ist von der Gewißheit erfüllt, daß bei seinem heimlichen Werben um Emilia Tilsen keine Zeit mehr verloren werden darf. Er weiß jetzt, daß er nicht nach Dänemark gekommen ist, um Laute zu spielen, ja nicht einmal, um die Rolle des königlichen Engels zu übernehmen. Er ist nach Dänemark gekommen, um seinen eigenen Wert zu entdecken, um zu begreifen, wozu er fähig ist. Und Emilia ist der Spiegel, in dem er seine eigene Qualität erkannt hat.
Das Blau wird aus dem Himmel gebleicht, die kreisenden Tauben heben sich makellos weiß von seiner aufstrebenden Weiße ab, und Peter Claire fühlt sich von der fedrigen Schönheit dieser Formen und Farben bewegt.
Emilia hat auf diese Einladung – diese Aufforderung – gewartet.
Bei ihren Spaziergängen und Promenaden mit Kirsten hat sie sich zwar deren Warnungen vor der Perfidie gutaussehender Männer unterworfen, aber dennoch versucht, einen flüchtigen Blick auf den Lautenisten zu werfen, und jedesmal, wenn sie ihn sah, erwachten in ihr genau die Gefühle der Erregung und Sehnsucht, von denen sie einst glaubte, daß es sie in ihrem Leben niemals geben würde.
Sie gehorchte Kirsten und versuchte, nicht mehr an Peter Claire zu denken, ja, redete sich sogar ein, er sei schon nach England zurückgekehrt und sie werde ihn nie wiedersehen. Doch er weigerte sich zu gehen. Und sie hatte gewußt, daß es, bevor der Sommer zu Ende gehen würde, noch einmal ein Gespräch zwischen ihnen geben mußte, ein Gespräch, in dem etwas Wichtiges gesagt werden würde. Die weißen Bänder sind beredt gewesen, und es ist kaum ein Tag vergangen, an dem sie Emilia nicht in der Hand gehalten oder an ihr Gesicht gepreßt hat. Doch Bänder können nicht alles sagen. Emilia hat angefangen, sich nach den Worten und der Berührung des Mannes zu sehnen.
Als sie nun auf den Wegen des Obstgartens mit seinen Buchsbaumhecken und seinem Obst- und Erdgeruch zum Vogelhaus geht, ist sie von der Kühnheit, die sie in ihrer eigenen Natur entdeckt, und von der Geschwindigkeit, mit der sie der Liebe entgegeneilt, kaum noch überrascht. Alles, was sanft, gehorsam und zurückhaltend an ihr war, scheint dafür ausgelöscht zu sein: Die Emilia, die zu Peter Claire unterwegs ist, ist die Emilia, die ihrem Vater den Gehorsam verweigerte und ihr Herz gegenüber Magdalena nicht erweichen lassen wollte. Es ist die Emilia, die Hals über Kopf auf gefrorenen Flüssen Schlittschuh lief. Es ist die Emilia (auch wenn sie das nicht weiß), die Marcus in seinem verwirrten Kopf sieht, die Emilia, die Boten über den Himmel zu ihm schickt.
Sie hat sich die weißen Bänder in ihr braunes Haar gesteckt. Kirsten schläft und wird erst aufwachen, wenn die Dunkelheit die Essenszeit und Tröstungen des Abends ankündigt. Emilia hofft, daß sich ihr Leben in dieser kurzen Zeitspanne verändern wird.
Als sie dort ankommt, wo die Tauben kreisen, sich auf das Vogelhaus setzen und von oben das Geschehen betrachten, gibt es keinen Augenblick der Höflichkeit oder Ritterlichkeit, des Zögerns oder einer plötzlichen Unentschlossenheit, weil die Zeit dafür vorbei ist.
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