Melodie des Südens
unsere anderen Gäste?«
»Die sind schon im Morgengrauen mit den Angelruten an den See geritten.«
Keiner von ihnen hatte es der Mühe wert befunden, in den Sklavenunterkünften haltzumachen, um sich nach dem verletzten Kind zu erkundigen. Ihr Zorn, diese formlose Masse, die ihr das Herz zusammendrückte, umfasste nun auch ihren Bruder und Yves. Nicht Marcel, dachte sie. Er hat sich immerhin bereit erklärt, den Arzt zu holen, und das hat ihm seinen gesamten Nachtschlaf gekostet.
»Mr Chamard hat nach der Kleinen gefragt, bevor er weggeritten ist«, sagte Charles.
Marcel, dachte sie. Wenigstens einer, der sich kümmerte.
»Ich werde mit dem Doktor auf der Terrasse frühstücken«, sagte sie. »Und in einer Stunde würde ich gern mit Mr McNaught sprechen.«
»Der kommt doch erst morgen wieder«, bemerkte Charles. »Er ist auf der anderen Farm und sieht nach dem Zuckerrohr.«
Und er hatte es den Sklaven überlassen, die Bestien einzufangen und anzuketten, dachte sie. Wo hielt er seine Hunde? Sie marschierte Richtung Terrasse. Vermutlich hatte er die Meute nicht auf verschiedene Stellen verteilt, wie sie es angeordnet hatte. Kein Wunder, dass der Mann nicht auf sie hörte, wenn Adam ihm indirekt recht gab mit diesem idiotischen Gerede von wegen ›Frauen verstehen davon nichts‹.
Beim Treffen mit Dr. Chamard nahm sie so viel Gastgeberinnencharme zusammen, wie sie aufbringen konnte. Zum Frühstück gab es Melonen, frische Forellen, Maiskuchen und jede Menge schwarzen Kaffee, und während sie sich stärkten, entdeckten sie eine tiefe geistige Verwandtschaft. Marianne stellte ihm alle Fragen, die sie seit Monaten, zum Teil seit Jahren mit sich herumtrug. Was auch immer bei ihrer Lektüre medizinischer Bücher unklar geblieben war, was auch immer ihr unklar geblieben war, wenn sie ihre Patienten behandelte, hier konnte sie es klären. Bei frisch gebackenen Eclairs und Erdbeerkompott diskutierten sie die heikelsten Themen, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt.
Sie sprachen auch über die Arbeitsmöglichkeiten für Peter, was er mit seinen verstümmelten Gliedern tun oder nicht tun konnte. Marianne verfolgte mit dem Finger ein Muster in der Tischdecke. Diesem Mann konnte sie vertrauen. Seine eigene Mutter, Cleo Tassin, war Sklavin gewesen, und wenn die Gerüchte stimmten, war sie mit ihrer Herrin, Miss Josephine, zusammen erzogen worden.
»Ich dachte, vielleicht könnte ich Peter das Lesen beibringen.«
Gabriel Chamard hob eine Augenbraue. »Sie würden einem Sklaven das Lesen beibringen?«
»Finden Sie das falsch? Zu schwierig?«
»Weder noch«, sagte er. »Nur ihre Nachbarn würden dem kaum zustimmen.«
Sie lächelte ihm zu. »Ich glaube nicht, dass ich sie fragen würde.«
Das Frühstück hatte ihre Lebensgeister und ihre Hoffnung wieder geweckt. Sicher würde die gute Behandlung Sylvies Leben retten. Auf dem Weg zurück in die Sklavenunterkünfte hielt Marianne ein gezuckertes Eclair hoch, das sie vom Tisch mitgenommen hatte. »Vielleicht kann ich sie damit zum Lächeln bringen.«
Sie waren im Schatten der Pekanbäume angekommen, als sie einen Klageschrei hörten, hoch und lang anhaltend und verzweifelt. Marianne griff nach dem Ärmel des Doktors. Sie spürte, wie die Haare in ihrem Nacken sich aufrichteten und wie sie plötzlich fror. Dann hob sie ihre Röcke hoch und rannte zwischen den Bäumen hindurch, den Pfad hinunter mitten in die Menge hinein, die sich vor der Hüttentür versammelt hatte. Drinnen lag Irene über das Bett geworfen, die Arme um Sylvies leblosen kleinen Körper geschlungen. Sie schluchzte laut, bevor sie wieder aufstand und ihre Trauer zu den Deckenbalken hinaufschrie.
Marianne starrte Sylvie an. An den Anblick des Todes würde sie sich nie gewöhnen, niemals. Dieser Moment, wenn der Körper nur noch ein leeres Gefäß war, wenn der Lebensfunke verschwunden war, obwohl doch alles aussah wie vorher.
Marianne begann zu zittern, dann schüttelte es sie. Wie von ferne spürte sie, dass der Doktor ihren Arm nahm und sie aus der stickigen Hütte führte. Draußen angekommen, schüttelte sie ihn ab und rannte davon. Zwischen den Pekanbäumen hindurch, über den Rasen und über die Veranda. Sie hatte einen Plan, nur ein Bild in ihrem Kopf, ohne Worte. Ein vollkommen elementares Ziel. Im Arbeitszimmer ihres Vaters angekommen, suchte sie aus dem Schlüsselbund, den sie stets bei sich trug, den richtigen Schlüssel heraus. Sie öffnete den Waffenschrank, griff nach dem
Weitere Kostenlose Bücher