Memento - Die Überlebenden (German Edition)
ist aus dem Meer geworden? Er hat Bilder gesehen, in Graustufen. Es ist aufgewühlt, schäumt. Doch Graustufen verfälschen es. Genauso wie ein unbewegtes Bild. Er schließt die Augen und versucht sich vorzustellen, dass sein Kopf in einer Decke und das Meer nicht weit entfernt und seine Mutter ganz nah ist. Er hofft, dass er nicht sterben muss.
Ein Kind schreit auf. Es klingt wie der klagende Ruf einer Möwe.
PRESSIA
Araber
Eine Hälfte von Ingerships knochigem Gesicht besteht aus einer Metallplatte mit einem Scharnier an der Stelle, wo das Kiefergelenk sein sollte. Es wurde von jemandem gerichtet, der wusste, was er tut. Von einem Profi, nicht einem einfachen Fleisch-Schneider, wie ihr Großvater es ist. Nein, diese Operation wurde von jemandem mit einer Ausbildung und richtigen Instrumenten durchgeführt. Das Scharnier ermöglicht Ingership zu sprechen, zu kauen, zu schlucken. Trotzdem klingen seine Worte steif und mühsam. Das Metall endet unter seinem Kinn in der Haut, doch es ist unmöglich zu erkennen, wie weit es bis nach oben reicht, weil er eine Uniformmütze trägt. Die andere Seite seines Schädels ist sauber rasiert und rosig. Der Gedanke an seinen Schädel macht Pressia Angst, denn er ruft die Erinnerung an den Schuss wach, den Rückschlag, den blutigen Schädel des Jungen auf dem Boden. Sie ist keine Mörderin, aber sie hat zugelassen, dass El Capitán ihn erschossen hat. Er wäre ohnehin gestorben, ja. Er hat El Capitán angefleht, es zu tun, ja. Es war ein Akt der Gnade, ja. Es hilft ihr trotzdem nicht. Sie hat sich schuldig gemacht.
Pressia sitzt Ingership schräg gegenüber im Fond einer atemberaubend sauberen schwarzen Limousine. Die Sonne scheint direkt von oben herab. Die Befehle für El Capitán besagten, dass er Pressia Belze zu einem umgestürzten alten Wasserturm in fünf Kilometern Entfernung bringen sollte, wo der Wagen neben dem geborstenen, geschwärzten Tank warten würde. Als sie eintrafen, war der Wagen bereits da und sah so sauber und jungfräulich aus wie aus einer anderen Welt. Das hintere Fenster surrte herunter, und Ingerships Gesicht kam zum Vorschein. »Einsteigen«, sagte er.
Pressia folgte El Capitán um den Wagen herum zur anderen Seite. El Capitán öffnete die Tür. Pressia stieg zuerst ein, dann folgte El Capitán und schlug die Tür hinter sich zu. Mit seinem Gewehr über der Schulter und Helmud im Rücken musste er vornübergebeugt sitzen. Helmud war sperrig und erweckte ein Gefühl von Überfüllung im Fond der Limousine. Ingership bedachte ihn mit einem eisigen Blick, und es war, als wollte er El Capitán befehlen, Helmud abzulegen. Pressia stellte sich vor, wie Ingership sagt: Können wir das Gepäck in den Kofferraum packen?
»Steig aus«, sagte Ingership stattdessen.
»Wer? Ich?«, fragte El Capitán.
»Ich?«, fragte Helmud.
Ingership nickte. »Du wartest hier. Der Fahrer bringt sie zu dir zurück.«
Pressia wollte nicht, dass El Capitán ausstieg. Sie wollte nicht mit Ingership allein sein. Irgendetwas an seiner mechanischen Aussprache und seiner unheimlichen Gelassenheit machte sie nervös.
El Capitán stieg aus, warf die Tür zu und klopfte an die Scheibe.
»Drück auf den Knopf«, befahl Ingership.
Pressia drückte auf einen Knopf auf der Lehne und spürte die elektrische Vibration in den Fingerspitzen, als das Fenster in die Tür glitt.
»Wie lange seid ihr weg?«, fragte El Capitán. Pressia sah, wie sein Finger am Abzug spielte.
»Du wartest hier«, erwiderte Ingership und gab dem Fahrer den Befehl loszufahren.
Die Limousine setzte sich mit einem Ruck in Bewegung, Staub wirbelte auf, und sie beschleunigten. Abgesehen von der Fahrt im Truck der OSR, gefesselt und geknebelt, hatte Pressia nicht mehr in einem Wagen gesessen, solange sie zurückdenken konnte. Hatte sie überhaupt eine Erinnerung an dieses Gefühl, tief im Unterbewusstsein? Sie hatte Angst, irgendwie vom Sitz zu rutschen. Der Wind wirbelte durch das Fenster herein und mit ihm die Asche.
»Mach das Fenster zu!«, befahl Ingership laut.
Pressia betätigte den Knopf in die andere Richtung, und die Scheibe glitt nach oben.
Jetzt regnet es ein wenig, und die Limousine ist so blitzblank poliert, dass der Regen in großen Tropfen abperlt. Pressia wüsste gerne, woher der Wagen gekommen ist. Er ist wie neu, ohne jeden Makel. Hat er in einem Bunker gestanden oder in einer gehärteten Garage?
Der Fahrer behält seine Passagiere auf dem Rücksitz unablässig im Auge. Er ist ein
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