Memento - Die Überlebenden (German Edition)
den Beschreibungen ihres Großvaters.
»Ein Zelt. Verstanden? Das ist ein Befehl.« Ingerships Stimme klingt unvermittelt hart, als wäre nicht nur sein Gesicht, sondern auch sein Stimmapparat zum Teil metallisch.
»Verstanden«, beeilt sich Pressia zu sagen.
Für ein paar Minuten herrscht Schweigen, bis Ingership wieder das Wort ergreift. »In meiner Freizeit bastele ich an Altertümlichem herum. Ich versuche Lebensmittel zurückzugewinnen, die verloren gingen. Es ist noch nicht perfekt, aber ich bin dicht dran.« Und dann stößt er einen tiefen Seufzer aus. »Ein bisschen altmodische Lebensart hier draußen in der Wildnis.«
Altmodische Lebensart? Pressia versteht nicht mal ansatzweise, was er meinen könnte. »Woher hast du die Austern?«, fragt sie.
»Ah«, sagt Ingership zwinkernd. »Ein kleines Geheimnis. Ich muss doch noch ein Ass im Ärmel behalten.«
Pressia versteht nicht, warum er irgendwas im Ärmel behalten muss.
Der Fahrer hält vor einer breiten Verandatreppe, und Pressia erinnert sich an den Text jenes Lieds, das ihre Mutter so geliebt hat, das Gutenachtlied von dem Mädchen, das einsam auf der Veranda tanzt.
In diesem Moment tritt eine Frau aus dem Haus. Sie trägt ein leuchtend gelbes Kleid, die Farbe passend zum Haus, und ihre Haut scheint im ersten Moment so weiß, als würde sie von innen heraus strahlen. Ist sie eine Reine? Doch dann erkennt Pressia, dass es nicht ihre Haut ist. Es ist eine Art Strumpf aus einem dünnen, dehnbaren, leicht glänzenden Material. Es bedeckt jeden Quadratzentimeter ihres Körpers und besitzt Fingerlinge und kleine, sauber ausgeschnittene Löcher für Augen und Mund, und jetzt, wo die Frau nah genug ist, erkennt Pressia auch die Nasenlöcher. Die Frau ist genauso mager wie Ingership. Ihre kantigen Schultern sehen aus wie nackte Knochen.
Ingership steigt aus dem Wagen, und Pressia folgt ihm.
Seine Frau ruft: »Wunderbar! Wunderbar, dass du es geschafft hast!« Der Strumpf bewegt sich nicht. Er passt sich perfekt den Muskeln des darunterliegenden Gesichts an und drückt weder ihre Nase platt noch zieht er ihren Mund auseinander. Sie trägt eine Perücke, eine aufgeplusterte blonde Perücke, die ihre Ohren verbirgt und von einem breiten Clip hinter ihrem Nacken gehalten wird. Sie kommt nicht die Treppe hinunter, sondern bleibt beim Geländer stehen und stützt sich mit einer Hand darauf.
Pressia folgt Ingership die Treppe hinauf. Ingership küsst seine Frau auf die Wange, doch es ist nicht ihre Wange, sondern die Strumpfhaut. »Das hier ist meine liebe Frau.«
Ingerships Frau ist ein wenig betroffen von Pressias Anblick, als wäre sie nicht daran gewöhnt, Überlebende zu sehen. Einer ihrer Knöchel wackelt in den spitzen Schuhen.
Pressia verbirgt ihre Puppenfaust hinter dem Rücken. »Es freut mich, dich kennenzulernen«, sagt sie leise.
»Ja«, antwortet Ingerships Frau.
»Austern auf halber Schale?«, fragt Ingership seine Frau.
»Gekühlt und bereit zum Servieren!«, sagt sie mit einem Lächeln, der Strumpf über ihrem Gesicht bleibt glatt und straff.
PRESSIA
Austern
Sobald sie das Haus betreten haben, schließt Ingerships Frau hinter ihnen die Tür und drückt anschließend auf einen Knopf an der Wand. Wie von Geisterhand legen sich Gummidichtungen über die Fugen der Tür. Um den Staub draußen zu halten?, fragt sich Pressia. Falls ja, funktioniert es gut. Die Wände sind cremefarben glänzend. Die Holzböden sind poliert. An einer Wand hängt ein Gemälde, das genau dieses Haus zeigt, umgeben von verschneiten Hügeln, weiß und glitzernd, als gäbe es überhaupt keine Asche.
»Willkommen in unserer bescheidenen Behausung«, sagt Ingership, dann fährt er mit einem Finger über einen Streifen aus weißem Holz, der sich in Hüfthöhe an den Wänden entlangzieht. Er hält den Finger hoch. Er ist leicht grau von Asche. Er macht sich nicht die Mühe, seinen Metallkiefer zu öffnen, sondern sagt mit zusammengebissenen Zähnen: »Eklig?«
Seine Frau sieht untröstlich aus. Ihr Kopf bewegt sich rasch auf und ab. »Eklig!«, piepst sie.
Pressia hat noch nie so viel Eleganz gesehen – ein Läufer mit hellblauem Blumenmuster, ein Treppengeländer, das am Fuß der Treppe in einer verschnörkelten Schnitzerei endet, eine goldene Decke. Sie gehen in ein Esszimmer mit einer langen, mit einem roten Tuch gedeckten Tafel. Das Besteck glänzt silbern, die Wände sind mit noch mehr Blumen gemustert. An der Decke hängt eine gigantische Lampe aus glitzerndem
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