Memento - Die Überlebenden (German Edition)
um den Fahrer nicht zu erwischen. Die Reifen drehen durch, dann finden sie Halt, und der Wagen setzt sich mit einem dumpfen Brummen in Bewegung, das er in den Rippen spüren kann. Eine Staubwolke wirbelt auf, aus deren Sog ein Dust aufsteigt. El Capitán kann es im Rückspiegel sehen, im Schein der Rückleuchten. Und wie ein echtes Tier, angezogen vom Blut des Fahrers, stürzt sich der Dust auf den Körper. Die Kappe rollt verloren über die Deadlands.
PARTRIDGE
Mütter
Der Kissenbezug über Partridges Kopf hat einen kleinen Riss, durch den Partridge Bruchstücke seiner Umgebung erkennen kann. Nicht genug, um zu sehen, wo er ist oder wo sie ihn hinbringen. Ihm ist klar, dass er und Bradwell von den schwer bewaffneten, kräftigen Frauen mit ihren Kindern an einen bestimmten Ort gebracht werden. Sie haben die beiden von allen Seiten umzingelt. Eine Frau geht vorneweg. Sie trägt eine alte Campinglaterne vor sich her, mit Gewebeband an einem Stock befestigt. Die Lampe schwankt und wirft Schatten auf alle. Die Frauen mit den Kindern in den Oberkörpern schreiten nahezu. Die mit den Kindern an den Beinen hingegen humpeln und wuchten und mühen sich mehr oder weniger ab. Manche haben überhaupt keine Kinder, und im Vergleich zu den anderen wirken sie nackt, abgespeckt, wie eine kleinere Version ihrer selbst.
Die Vögel auf Bradwells Rücken rühren sich nicht. Sie scheinen auf Bradwells Angst zu reagieren – oder vielleicht hat er auch gar keine Angst mehr in so einer Situation. Vielleicht ist das einer der Vorteile, wenn man schon tot ist. Vielleicht wissen die Vögel aber auch einfach, wann sie still sein sollten.
In unregelmäßigen Abständen fragt Bradwell, wohin sie gehen, doch er bekommt keine Antwort.
Die Frauen schweigen. Wenn eines der Kinder anfängt zu plappern oder weint, bringen sie es mit leisen Worten zum Verstummen oder mit irgendwelchen Happen, die sie aus einer Tasche ziehen und dem Schreihals in den Mund stecken. Durch den Riss erhascht Partridge nur flüchtige Blicke auf die Kinder, die ihn von Beinen oder Hüften oder Rücken aus anstarren. Ihre Augen sind eigenartig hell und ihr Lächeln schnell. Sie husten zwar auch, doch nicht so wie die Kinder vom Markt. Ihre Lungen rasseln nicht so sehr.
Partridge sieht, dass die Frauen sie aus der ehemaligen geschlossenen Wohnanlage führen, weg von den Plastikhügeln. Der Boden ist mit Geröll übersät, Resten von Zement und Teer, und er nimmt an, dass sie unterwegs zu einem früheren Einkaufszentrum sind. Er dreht den Kopf, sodass der Riss vorne ist. Zusätzlich zu der Laterne trägt eine zweite Frau eine Taschenlampe. Der Lichtkegel huscht über die Reste der einstigen Ladenzeile. Partridge sieht die Reste einer Kinomarkise, zwei »a« und ein »l« sind noch zu lesen, und Partridge denkt an Aal, von der elektrischen Sorte. Waren das Fische oder Schlangen? Die restlichen Geschäfte sind nicht mehr zu erkennen – geplündert und ausgeschlachtet und bar von allem, das sich irgendwie verwerten lässt. Selbst Glas und Metall sind verschwunden. Ein paar Deckenfliesen sind geblieben. Dann, wie durch ein Wunder, fällt der Lichtkegel der Taschenlampe auf eine intakt gebliebene Leuchtstoffröhre in einem abgelegenen Winkel.
Das Echo ihrer Schritte ist verhallt. Sie nähern sich einem großen, massiven Gebilde. Partridge erkennt eines der riesigen ehemaligen Gefängnisse, oder vielleicht war es auch so eine Anstalt wie die, in die Mrs Fareling gebracht wurde. Oder ein Krankenhaus. Sie bewegen sich in einer dicht gedrängten Gruppe an der Seite der Ruine entlang.
»Hier war ich drei Jahre untergebracht«, sagt eine der Frauen. »Frauenflügel. Zelle zwölf-vierundachtzig. Essen durch die Klappe. Licht aus nach dem Abendgebet.«
Partridge dreht den Kopf, um zu sehen, welche Frau das sagt. Es ist eine von den kinderlosen.
»Ich hatte nur ein einziges Gebet«, flüstert eine zweite Frau. »Rette uns, rette uns, rette uns.«
Danach herrscht erneut Schweigen. Sie marschieren weiter, bis eine Frau neben Partridge sagt: »Jetzt geht’s nach unten.«
Einen Schritt weiter scheint der Boden unter Partridges Füßen zu verschwinden. Er taumelt und landet unsanft auf der ersten Stufe einer Treppe. Er steigt nach unten.
»Bradwell?«, fragt er. »Bist du noch da?«
»Ich bin noch da.«
»Maul halten!« Es ist eine Kinderstimme.
Sie steigen hinunter in ein großes Kellergeschoss, nach dem Hall ihrer Schritte zu urteilen. Es wird rasch kühler. Die Luft ist
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