Memento - Die Überlebenden (German Edition)
Möglichkeit.
Dennoch wirkt es wiederum gar nicht häuslich, weil es in diesem Zimmer auch einen langen Metalltisch voller Kommunikationsgeräte gibt – Radios, Computer, alte Server, Bildschirme. Keines der Geräte ist in Betrieb.
An der gegenüberliegenden Wand steht das Ungewöhnlichste von allem, eine lange Metallkapsel mit einem Glasdeckel. Es sieht ein bisschen aus wie ein Aquarium. Sie erinnert sich, dass ihr Großvater von Glasbodenbooten erzählt hat, Touristenfallen hat er sie genannt, die einen hinaus in die Sümpfe von Florida brachten, wo man Alligatoren auf den Sandbänken und an den Ufern zählen konnte. Er ist eigenartig, der Gedanke an Florida – von dort war sie angeblich gekommen, als ihr Großvater sie am Flughafen abgeholt hat und die Bomben fielen. Disney, die Maus mit den weißen Handschuhen. Alles nie passiert.
Die Metallkapsel mit dem Glasdeckel erinnert Pressia außerdem an die Heilige Wi, die Frauenstatue in der Krypta, und den Sarkophag in der Nische hinter dem Plexiglas.
Und sie erinnert Pressia natürlich an ihr eigenes Zuhause, an den Schrank.
Liegt darin ihre Mutter? In der Kapsel?
Ein paar Zikaden sind ihnen gefolgt, und nun kreisen sie unter der Decke. Für einen Moment fragt sich Pressia, ob Caruso möglicherweise wahnsinnig ist. Völlig abwegig ist der Gedanke nicht, wenn man überlegt, dass er all die Jahre wie in einem Gefängnis unter der Erde gelebt hat. Ist das vielleicht eine Grabstätte? Ist ihre Mutter tot? Ist das alles ein weiterer grausamer Scherz?
Partridge scheint ähnliche Gedanken zu haben, denn er wendet sich zu Caruso um, der im Eingang stehen geblieben ist und wartet. »Was ist das für ein Ding?«, fragt er mit finsterer Miene.
»Wir haben zweiundsechzig davon«, antwortet Caruso. »Wir hatten mit Luftverseuchung und Sauerstoffmangel gerechnet. Sie haben eine vollständige Sauerstoffversorgung. Wir haben sie letztendlich dafür nicht gebraucht, aber sie waren auch gegen die Virenverseuchung und Allgemeines Organversagen sehr nützlich.«
»Zweiundsechzig?«
»Mehr konnten wir damals nicht organisieren. Anfangs waren wir fast dreihundert Personen hier. Wissenschaftler und ihre Familien.«
»Wo sind sie jetzt?«
»Eure Mutter und ich sind die Einzigen, die noch übrig sind. Viele starben. Andere fügten sich selbst Narben zu, um nicht aufzufallen, und mischten sich unter die Überlebenden draußen. Wir haben noch Kontakt zu ihnen. So erfuhren wir auch von deiner Flucht. Gerüchte. Wir waren nicht sicher, ob sie der Wahrheit entsprachen, bevor wir das Licht des Steins entdeckten.«
»Er sendet Licht aus?«, fragt Pressia überrascht.
»Ein schmales Frequenzband, ja.«
Pressia ist noch nicht bereit für einen Blick durch die Scheibe. Sie steht schräg hinter Partridge und lässt ihm den Vortritt. Er beugt sich vor und hält die Luft an. Pressia kann sein Gesicht nicht sehen.
Dann beugt sie sich ebenfalls vor. Hinter der Scheibe befindet sich das ernste Gesicht einer Frau. Sie hat die Augen geschlossen. Es ist die Frau von Partridges Foto – ihre gemeinsame Mutter. Sie hat lockiges Haar, doch es ist graumeliert und lang und rahmt ihren Kopf auf dem Kissen ein. Sie ist immer noch wunderschön, trotz ihrer blutunterlaufenen Augen und obwohl ihre Haut dünn wirkt wie Papier.
Ihr Körper dagegen ist übel zugerichtet.
Sie hat keine Arme mehr. Eines ihrer Schlüsselbeine ist eine Metallstange, die an der Schulter in einem Metallgetriebe endet. Der Arm selbst ist aus rostfreiem Stahl, das Material perforiert wie ein Sieb, wohl um das Gewicht niedrig zu halten. Statt in einer Hand mündet der Unterarm in ein Kugelgelenk mit einer großen Zange am Ende. Der andere Arm mündet kurz über dem Ellbogen in einer Prothese. Sie ist aus Holz, dünn, bräunlich. Die zierlichen Finger sind beweglich. Lederriemen um das Schultergelenk halten die Prothese an ihrem Platz.
Die Beine sind ebenfalls verschwunden. Sie trägt einen Rock, der kurz unterhalb der Knie endet. Die Prothesen darunter sind wie Skelette – zwei knochenähnliche Stangen, die an den Knöcheln in ein künstliches Gelenk münden, und darunter etwas, das entfernt aussieht wie Pedale. Beide sind zerschrammt und verbeult vom vielen Gebrauch.
Es ist schwer zu erklären, doch ihre Gliedmaßen sind wunderschön in Pressias Augen. Vielleicht ist es Bradwells Sicht der Dinge, dass Schönheit in ihren Narben liegt, weil sie Spuren ihres Überlebens sind, was für sich genommen bei genauerer Betrachtung
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