Memento - Die Überlebenden (German Edition)
nicht verloren ist, sondern stecken geblieben. Sie starren sie flehentlich an. Einige der Mädchen versuchen mithilfe von Gesten Fragen zu stellen, doch es ist beinahe unmöglich zu antworten. Wärter beaufsichtigen die Gänge und schlagen mit kleinen Knüppeln gegen die Türen. Die Mädchen verschwinden, bevor sich überhaupt eine Unterhaltung in Gestensprache entwickeln kann.
Heute ist irgendwas anders. Eine der Wärterinnen kommt herein, obwohl es nicht Mittagszeit ist. Sie schließt die Tür auf und sagt: »Du gehst zur Ergo.«
»Ergo?«, fragt Lyda.
»Ergotherapie. Du wirst eine Sitzmatte weben.«
»Okay«, sagt Lyda. »Brauche ich eine Sitzmatte hier drin?«
»Braucht irgendjemand eine Sitzmatte?«, fragt die Wärterin, dann lächelt sie. »Es ist ein gutes Zeichen«, flüstert sie Lyda zu. »Offensichtlich erbarmt sich allmählich jemand.«
Lyda fragt sich, ob ihre Mutter ein paar Fäden gezogen hat. Ist das der Anfang einer echten Wiedereingliederung? Bedeutet das, jemand glaubt, dass sie geheilt werden könnte, auch wenn sie nie krank war?
Der Gang ist wie in eine andere Welt. Sie nimmt die Fliesen auf, den sauberen Fugenmörtel, das Rascheln der Uniform der Wärterin vor ihr, die hüpfende Elektroschockpistole an ihrer Hüfte, die Hausmeisterkammer mit der großen Poliermaschine, deren Stecker gezogen ist.
Ein Gesicht erscheint hinter einem der rechteckigen Fenster, ein Mädchen, dessen Augen weit sind vor Angst, dann ein weiteres, leer und ausdruckslos. Lyda ordnet sie ein – die Erste hat noch keine Medikamente bekommen, die Zweite hingegen schon. Lyda nimmt ihre Medikamente nicht mehr. Sie tut nur so. Sie spuckt sie aus, wenn die Wärterin gegangen ist, und zermahlt sie zu Staub.
Die Wärterin kontrolliert ihr Klemmbrett und bleibt stehen, um eine weitere Tür nicht weit von Lydas Zimmer zu öffnen. Dahinter wartet ein neues Mädchen, ein Gesicht, das Lyda noch nicht gesehen hat. Es hat breite Hüften und eine schmale Taille. Der Kopf ist frisch rasiert. Die Schnitte sind noch frisch. An den Augenbrauen des Mädchens kann Lyda erkennen, dass sie rothaarig ist.
»Hoch mit dir!«, brüllt die Wärterin die Rothaarige an. »Los, Bewegung!«
Das Mädchen sieht zu Lyda und der Wärterin. Dann nimmt es das weiße Kopftuch aus dem Schoß, wickelt es sich um den Kopf und folgt ihnen.
Sie werden in einen Raum mit drei langen Tischen und Bänken geführt. Jetzt sieht Lyda zum ersten Mal andere Mädchen, ganze Körper, nicht nur Gesichter, was sie überrascht. Es ist, als hätte sie vergessen, dass die Gesichter Körper haben. Ein paar der Gesichter von den Fenstern in den vergangenen Tagen erkennt sie wieder. Auch sie tragen Kopftücher wie Lyda. Außerdem identische weiße Overalls. Warum weiß?, fragt sich Lyda. Das wird so schnell schmutzig. Und dann überlegt sie, dass dieser Gedanke wohl nicht mehr relevant ist – Angst vor Flecken gehört in ihr altes Leben. Dieses Leben existiert hier nicht. Es kann nicht. Nicht angesichts der Angst vor lebenslangem Eingesperrtsein.
Die Mädchen weben Sitzmatten, genau wie die Wärterin es gesagt hat. Sie haben Plastikstreifen in verschiedenen Farben, die sie miteinander verflechten und zu karierten Mustern verarbeiten – wie Kinder in einem Ferienlager.
Die Wärterin befiehlt Lyda und der Rothaarigen, sich zu den anderen zu setzen. Lyda setzt sich auf der einen Seite eines langen Tisches neben eines der Mädchen, die Rothaarige nimmt ihr gegenüber Platz. Sie fängt sofort an, Streifen aufzusammeln – ausschließlich rote und weiße – und zu flechten, den Kopf konzentriert über die Arbeit gesenkt.
Das Mädchen neben Lyda blickt kurz auf, mustert sie aus großen dunklen Augen und wendet sich dann wieder ihrer Flechterei zu. Lyda kennt sie nicht. Die ganze Reihe entlang scheinen die Mädchen jetzt eines nach dem anderen den Kopf zu heben, sie kurz zu mustern und dann ihre Nachbarin anzustoßen, die als Nächste gafft. Es ist wie eine Kettenreaktion.
Lyda ist berühmt – allerdings wissen die Mädchen mehr über den Grund ihrer Berühmtheit als sie selbst.
Die Wärterinnen haben sich in eine Ecke zurückgezogen. Sie lehnen sich an die Wand und unterhalten sich leise.
Lyda beobachtet sie verstohlen und sammelt eine Handvoll Plastikstreifen auf. Ihre Finger zucken nervös. Für eine Weile ist alles still, bis das Mädchen neben Lyda flüstert: »Du bist immer noch hier.«
Meint sie die Anstalt oder den Gemeinschaftsraum? Lyda antwortet nicht.
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