Memoiren 1902 - 1945
fortbewegen.
Mit einem kleinen Faltboot war der Wissenschaftler allein losgefahren, nicht einmal ein Zelt hatte er mitgenommen. Seit neun Tagen waren wir ohne Nachricht von ihm. Sein Proviant mußte längst zu Ende sein. Gerda, seine Frau, und wir alle waren tief beunruhigt. Fanck ließ ein Rettungsunternehmen vorbereiten, als uns ein Eskimo, der im Fjord auf Seehunde jagte, das Mittelstück von Dr. Sorges Faltboot brachte, er hatte es aufgefischt. Was konnte dieses zersplitterte Boot anderes bedeuten, als daß Eismassen es zerschmettert hatten. Im bleichen Gesicht Gerda Sorges zuckte kein Muskel. Erst als sie in der Totenstille, die über unserem Kreis lag, hervortrat, um Fanck die Pläne ihres Mannes zu geben, stürzten ihr die Tränen aus den Augen.
Die Boote und Udet wurden zum Suchen ausgeschickt, und mit uns warteten die Eskimos auf Nachricht. Nach vier Stunden erst kam Udet zurück; er hatte den ganzen Fjord über eine Länge von vierzig Kilometern abgesucht, aber keine Spur von Dr. Sorge finden können. Auch die Eisberge hatte er überflogen. Weitere Suche schien vergeblich. Wir mußten Dr. Sorge aufgeben. Aber Udet wollte es noch einmal versuchen. Wieder warteten wir Stunden.
Es dunkelte schon, bis wir den Lärm von Udets Maschine hörten. Als das Flugzeug dicht über unsere Köpfe strich und wir Udets Winken sehen konnten, ahnten wir, er werde uns gute Nachrichten bringen. Und tatsächlich - Udet hatte Dr. Sorge gefunden, ganz am Ende des Fjords, am Fuße des Rinksgletschers. Wir alle stießen ein freudiges Geheul aus, und unsere Freunde, die Eskimos, gebärdeten sich wie närrisch. Obwohl Udet nur noch wenig Sprit in der Maschine hatte, wollte er ein drittes Mal in den Fjord hineinfliegen, um Proviant und Kleider für den Gelehrten abzuwerfen. Auf einem Zettel, den er mit einem Stein befestigt hatte, stand, er habe unseren Leuten in den Rettungsbooten eine Kartenskizze zugeworfen, durch die sie ihn mit Sicherheit auffinden und aus seiner Lage befreien könnten.
Genau 24 Stunden später kamen unsere zwei Suchboote mit Sorge zurück. Trotz seiner Erschöpfung berichtete er uns sofort sein Abenteuer. Dreißig Stunden war er durch die Eisblöcke des Fjordwassers bis zum Fuße des Gletschers gepaddelt. Dort war er die steilen Felsen hinaufgeklettert und hatte das kleine Boot hinter sich herge
zogen, das er mehrere Meter über dem Wasser auf ein Plateau legte. Dann stieg er mit den Instrumenten und dem Proviant ziemlich hoch hinauf, bis er für sein Meßgerät einen geeigneten Platz fand. In dem Augenblick, in dem er durch sein Fernglas schaute, ereignete sich eine Katastrophe, die wahrscheinlich noch kein Mensch zuvor erlebt hatte. Die ganze Gletscherfront löste sich in einer Breite von etwa fünf und einer Tiefe von einem Kilometer von der nachschiebenden Inlandeismasse und donnerte hinab in den Fjord. Die riesigen Wellen erinnerten ihn, sagte er, an die fantastischen Vorstellungen einer vorgeschichtlichen Sintflut. Hunderte von Metern hohe Wassersäulen wurden durch den Druck der Eismassen in die Luft geschleudert. Die Masse des niederbrechenden Gletschereises übertraf nach seinen Berechnungen den Kubikinhalt sämtlicher Häuser Berlins.
Die gewaltige Springflut hatte das Boot von Dr. Sorge weggespült, aber den Glauben an seine Rettung hatte er keinen Augenblick verloren. Unbewegt führte er seine weiteren wissenschaftlichen Beobachtungen und Messungen durch, teilte den Proviant, der für fünf Tage berechnet war, überlegt ein und stellte Steinmänner auf, um seine Lage aus der Luft erkennbar zu machen. Die Beeren, die am Fuße des Gletschers wuchsen, ergänzten ein wenig seinen Proviant. Erst beim zweiten Flug hatte Udet die aufgebauten Steinpyramiden entdeckt und auch die kleine Rauchsäule, die Dr. Sorge mit brennendem Moos notdürftig unterhielt, und um die er wie ein Urwaldmensch herumhüpfte. Mit dem letzten Tropfen Benzin erreichte Udet wieder seinen Landeplatz.
Der Polarwinter naht
D as schlechte Wetter machte uns zu schaffen. Kalter Wind fegte über die Zelte, und eines Nachts wurde ich unsanft geweckt. Mein ganzer Zeltbau mitsamt Pfählen, Stäben und Schnüren war über mir zusammengebrochen. Als ich mich endlich aus dem Netzwerk der Halteseile befreit hatte, entdeckte ich, daß es allen anderen ebenso ergangen war.
Mit den Hunden hatten wir viel Ärger. Schon einmal waren einige nachts in unser Küchenzelt eingebrochen und hatten sich auf unseren wertvollen
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