Memoiren 1945 - 1987
mehr. Selbst für den Silvesterabend, den unsere Freunde Karin und Claus Offermann mit uns in ihrem Lokal «Die Kanne» in der Maximilianstraße verbringen wollten, konnten wir uns nicht freimachen.
Die letzte Eintragung in meinem Kalender von 1975 lautet: «Ein anstrengendes Jahr — keine Zeit für Weihnachten, keine für Silvester — nur Arbeit.»
Meine Antwort an Speer
D ie Reaktion auf das letzte Jahr blieb nicht aus. Ich war zu keiner Unternehmung, gleich welcher Art, mehr imstande. Nicht einmal auf Lesen konnte ich mich konzentrieren. Selbst in den Bergen stellte sich kaum eine Besserung ein. Ich wollte es deshalb noch einmal mit einer Frischzellen-Behandlung versuchen. Es war das dritte Mal, daß ich zu Professor Block nach Lenggries fuhr. Schon die erste Kur hatte sich gelohnt. Ich glaube, ohne diese Frischzellenkur hätte ich die Anstrengungen während der Olympischen Spiele in München kaum durchgestanden. Auch die Kur zwei Jahre später bestätigte die Wirkung. Nach kurzer Zeit ließ die Müdigkeit nach, und ich konnte wieder besser schlafen. Auch dieser Aufenthalt in Lenggries war eine Wohltat, und abgeschirmt von der Hektik und den unaufhörlichen Sorgen, entspannten sich die strapazierten Nerven. Die Spritzen, die ich bekam, nahm ich gern in Kauf. Auch fand ich hier endlich die Zeit, Speers «Spandauer Tagebuch» zu lesen.
Er hatte es mir schon bei Erscheinen geschickt, aber ich brauchte für die Lektüre Ruhe. Speer schrieb, er schicke es mir nur mit Zagen und Zögern, da er befürchte, es widerspreche meiner Einstellung zu der uns gemeinsamen Vergangenheit. «Aber», schrieb er, «Du gehörst zu denjenigen, die auch andere Meinungen gelten lassen, dies ist nicht nur jetzt der Fall, sondern auch früher warst Du Andersgesinnten gegenüber duldsam und verständnisvoll. Daher bin ich gewiß, daß unsere Freundschaft durch dieses Buch nicht geschmälert wird.» Das hoffte ich auch, und ich war, noch bevor ich sein Buch las, sicher, daß Speer, was er auch schrieb, aus innerster Überzeugung berichtete. Dies war der Kern seines Wesens. Darum hatte ich für ihn große Hochachtung und Verehrung empfunden. Das würde sich auch nicht ändern, falls er andere Wege ginge als ich. Aber noch wußte ich nicht, ob sie wirklich so verschieden sein würden. Ich antwortete ihm:
8. Juni 1976 Mein lieber Albert,
wenn ich erst jetzt, nach so langer Pause, von mir hören lasse, so hat dies viele Gründe. Der wichtigste aber war der, daß ich erst Dein Buch lesen wollte, bevor ich schreibe. Um mich ungestört darin zu vertiefen, mußte ich aus München fortgehen, wo ich, in Folge des Klimas, meist zu müde bin, um etwas intensiv aufnehmen zu können.
Dein Gefühl, daß ich, was die Vergangenheit und vor allem die Person Hitlers betrifft, teilweise ganz andere Eindrücke, als Du sie beschreibst, empfangen habe, ist richtig. Aber das hat nichts mit unserer Freundschaft zu tun, die, wenigstens von meiner Seite, sehr tief ist und sich trotzdem niemals in ihrer Bedeutung ausdrük ken konnte — weder vor noch nach dem Krieg. Dein Buch ist eine große Leistung — wie alles, was Du ausgeführt hast. Ich glaube, Dich auch zu verstehen. Dein Ringen mit der Vergangenheit, Deine inneren Auseinandersetzungen mit Deinem früheren Verhältnis zu Hitler und Dein Wunsch, alle jene zu warnen, die sich noch nicht von der Faszination, die Hitler ausstrahlte, freimachen konnten.
Niemand, der bisher aus der Umgebung von Hitler geschrieben hat, ist so nahe an die Wahrheit gelangt. Es ist bewundernswert, wie sehr Du Dich bemüht hast, und wieviel Mut Du aufbrachtest. Deine Schonungslosigkeit Dir selbst gegenüber wird auch Deine Gegner mit Achtung erfüllen müssen.
Trotzdem — und Du wirst mir verzeihen, wenn ich es Dir gegen über ausspreche, gibst Du auf die millionenfachen Fragen, die nie aufhören werden: «Was war es an Hitler, daß nicht nur das deut sche Volk, sondern auch viele Ausländer von ihm so beeindruckt, ja geradezu verhext waren», keine befriedigende Antwort. Das liegt wohl vor allem daran, daß Du die negativen Seiten seiner Person
stärker betont hast als seine positiven. Ein Hitler, wie Du ihn be schreibst, könnte wohl Ungewöhnliches im Guten wie im Schlech ten vollbringen, nicht aber eine ganze Welt aus den Angeln heben, wie es ihm beinahe gelungen wäre. Hier gehen unsere Betrachtun gen auseinander — aber warum nicht? Ich bin alles andere als Winifried Wagner, die heute noch
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