Menetekel
sie merkwürdig an die Nunataks, die Felsen in den Schneefeldern, die sie erst vor kurzem vom Hubschrauber aus gesehen hatte.
Das lärmende, chaotische Kairo wich rasch stilleren, weiter auseinanderliegenden Häusergruppen, und als sie die kleine Stadt Bir Hooker passierten, die letzte Ortschaft, bevor die Wüste begann, hatten ihre Handys keinen Empfang mehr. Der Mönch informierte sie, dass sie von nun an auf ihr Satellitentelefon beschränkt sein würden.
Seit seinem ersten Anruf hatte Gracie seinen Akzent nicht einordnen können. «Woher stammen Sie eigentlich?»«Aus Kroatien. Ich komme aus einer kleinen Stadt im
Norden, unweit der italienischen Grenze.»
«Dann müssen Sie römisch-katholisch sein.»
«Selbstverständlich.»
«Dann ist Amin nicht Ihr richtiger Name?»
«Amin ist nicht mein Geburtsname», berichtigte er sie mit einem warmen Lächeln. «Bevor ich hierherkam, nannte man mich Dario. Wir alle nehmen koptische Namen an, sobald wir in das Kloster eintreten. So will es die Tradition.»
«Aber die koptische Kirche ist orthodox», hakte sie nach. Lange vor der protestantischen Reformation im sechzehnten Jahrhundert war die christliche Welt von dem großen Schisma im elften Jahrhundert erschüttert worden. Die Rivalitäten und theologischen Streitigkeiten zwischen Rom und seinen östlichen Pendants in Alexandria und Antiochia hatten schon seit den frühesten Tagen der Christenheit geschwelt. 1054 schließlich waren diese Kleinkriege eskaliert, und es kam zu einer Spaltung in die orthodoxe Ostkirche und die römisch-katholische Kirche. Das griechische Wort «orthodox» meinte wörtlich «rechtgläubig», was ziemlich genau der Ansicht der Ostkirche entsprach, dass sie der Bewahrer der Flamme war, dass ihre Anhänger den authentischen und unverfälschten Traditionen und Lehren folgten, wie sie von Jesus und seinen Aposteln weitergegeben worden waren.
«Orthodox ja, aber nicht östlich-orthodox», erläuterte der Mönch. Als er die verwirrten Gesichter seiner Gäste sah, winkte er ab. «Das ist eine lange Geschichte. Die koptische Kirche ist die älteste von allen, sie ist orthodoxer als die östlich-orthodoxeKirche. Tatsächlich wurde sie in der Mitte des ersten Jahrhunderts durch den Apostel Markus begründet, keine zehn Jahre nach Jesu Tod. Aber im Grunde ist das alles Unsinn. Eigentlich folgen doch alle Christen Jesus. Die Details spielen keine Rolle. Die hiesigen Klöster treffen diese Unterscheidungen nicht. Alle Christen sind willkommen. Pater Hieronymus ist Katholik.»
Wenig später umrundeten sie das Kloster des heiligen Pischoi, und am Ende einer staubigen, unbeleuchteten Straße tauchte das Kloster der Syrer auf. Es sah aus wie eine Arche, die in einem Meer aus Sand trieb – was wohl beabsichtigt war, denn das Kloster war offenbar nach dem Vorbild der Arche Noah erbaut worden. Im Näherkommen wurden Einzelheiten sichtbar: die beiden hoch aufragenden Glockentürme, der Quader der vierstöckigen Feste am großen Eingangstor, die Kuppeldächer mit den großen Kreuzen darauf, die innerhalb der zehn Meter hohen Klostermauern aufschienen.
Sie stiegen aus, und Bruder Amin führte sie an der Feste vorbei durch den Innenhof, der verlassen dalag. Die Einfriedung machte einen täuschend großen Eindruck. Der Innenraum besaß ungefähr die Ausmaße eines Fußballfelds und wirkte genauso flach. Alle Mauern und Kuppeln bestanden aus Lehm und Kalkstein von gleichartiger Farbe und aus weichen, organischen Formen. Die Klostermauern waren mit kleinen, unregelmäßigen Öffnungen anstelle von Fenstern versehen – um die Hitze auszusperren. Schmale Treppen führten in alle möglichen Richtungen. Die im Abendlicht warm orange schimmernde, fremdartige Architektur unterschied sich so sehr von der kalten, trostlosen Eislandschaft,die Gracie noch lebhaft vor Augen hatte, dass sie das Gefühl hatte, nicht nur über mehrere Kontinente gehüpft, sondern quer durchs Weltall auf einen fernen Planeten geflogen zu sein.
Als sie sich dem Eingang zur Bibliothek näherten, trat ein Mönch heraus und blieb stehen. Er sah sie zuerst verdutzt, dann verärgert an. Das musste der Abt sein.
«Bitte warten Sie hier», sagte Bruder Amin zu Gracie und Finch. Sie blieben zurück und versuchten, das erhitzte Gespräch zu beobachten, ohne allzu neugierig zu wirken.
Wenig später kam Bruder Amin mit dem Abt herüber, der sich wenig Mühe gab, sein Missfallen zu verbergen.
«Ich bin Bischof Kyrillos, der Abt dieses Klosters»,
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