Mensch, Martha!: Kriminalroman
der Haut
schießen können. Becker stellt sie diesem Kinderschänder vor,
als wären sie auf einem Stehempfang.
Radspieler sitzt lässig auf
seinem Stuhl und beobachtet Martha, die sich erst einmal Thomas’
Schreibtischstuhl heranrollen muss, um sich eine Sitzgelegenheit zu
verschaffen. Dann blickt sie ihm ins Gesicht. Es fällt ihr
nicht ganz leicht.
»Wir werden ein Band mitlaufen
lassen. Sind Sie einverstanden damit?« fragt sie in dienstlichem
Ton. Becker schiebt das kleine Tonbandgerät zu ihr.
»Meinetwegen auch eine
Webcam.«
Sie schätzt ihn auf etwa
vierzig. Er ist ziemlich groß, trägt einen Dreitagebart, ist
braungebrannt. Über der Stuhllehne hängt eine Lederjacke, die
ganz sicher nicht aus dem Schlussverkauf stammt.
Martha drückt ihren Rücken
durch, um ganz aufrecht zu sitzen. »Sagt Ihnen der Name Nicole
Scherbaum etwas?« Sie fummelt am Tonbandgerät herum. Der Startknopf
rastet nicht ein.
Er ignoriert die Frage. »Was
soll das hier – Frau Morgenstern?«
Dieses Frau Morgenstern hört sich an, als würde er mit dem Hammer drei Nägel in ein Brett
schlagen. »Da stehen am Samstagmorgen zwei Uniformierte bei mir
in der Haustüre und fordern mich auf mitzukommen. Wie ich mir
inzwischen zusammenreime, ist das Ganze auf Ihre Veranlassung hin
geschehen. Jetzt bitte ich Sie keine Fragen zu stellen, sondern meine
zu beantworten: Was soll das hier?«
Martha hat feuchte Hände. Sie
hat Sorge, in die Defensive zu geraten, dass sie bereits in die
Defensive geraten ist.
Radspieler scheint es auch zu
spüren. Er lacht. »Ich hab keine Ahnung, was das Mädchen Ihnen
erzählt hat. Aber eines kann ich Ihnen sagen: Es ist gelogen!«
Ganz bestimmt begrüßt der
morgens sein Spiegelbild mit freundlichen Worten.
Endlich läuft das Tonband.
Martha steht auf und stellt es vor seine Nase auf Beckers
Schreibtisch. Sie bleibt vor Radspieler stehen. Der Schreibtisch, der
die gesunde Distanz vermitteln soll, ist nicht mehr zwischen ihnen.
»Sie kennen das Mädchen?«
»Natürlich. Sie ist eine
Patientin von mir. – Eine nicht ganz einfache.«
Weil sie nicht an sich
herumspielen lässt, sondern Anzeige erstattet.
»Wann war sie das letzte Mal
in Ihrer Sprechstunde?«
Er streicht sich gelangweilt
über den Bart. »Gestern Abend. Ich wäre wirklich froh, wenn Sie
endlich sagen würden, was sie von mir wollen.«
Martha holt das Band hervor und
schaltet es ein. Becker richtet seinen Oberkörper auf wie ein
Theaterbesucher, der es genießt, sich einen guten Platz geleistet zu
haben. Endlich beginnt die Vorführung!
Sie lässt Radspieler keine
Sekunde aus den Augen. Er hört aufmerksam zu, sein arroganter
Gesichtsausdruck will nicht weichen. Zwischendurch wirkt er fast
amüsiert. Am Ende lacht er kurz auf.
»Was sagen Sie dazu?«
»Was ich dazu sage? Ich sage
gar nichts!« Er bohrt seinen Blick in Marthas Augen. Er muss zu ihr
aufblicken, aber das scheint ihn nicht zu irritieren. »Aber ich
frage Sie etwas: Sie saß vor Ihnen. Sie haben sie gesehen. Sie haben
sich von ihr eine Heidengeschichte auftischen lassen.« Er macht
eine Pause. Seine Augen werden schmal. »Und Ihnen sind überhaupt
keine Zweifel gekommen?« Er betont die einzelnen Silben, als wollte
er Martha die Trennungsregeln der deutschen Sprache an einem
Satzbeispiel erklären.
»Sie behaupten also, das
Mädchen würde lügen?«
Er beugt sich nach vorne.
»An der Geschichte ist nichts
wahr. Ich würde sagen, nicht mal die Bauchschmerzen.«
»Warum kam das Mädchen zu
uns?«
Er lässt sich wieder
zurückfallen und grinst. »Frau Morgenstern. Lernt man bei der
Polizei nichts über Psychologie? Dann sage ich Ihnen jetzt das
kleine Einmaleins der Psychologie auf. Man kann das auch in
Frauenzeitschriften beim Friseur lesen ...«
»Doch, doch. In unserer
Ausbildung hören wir eine Menge über Psychologie!« beeilt sich
Becker zu sagen.
Ich erschieß dich mit
deiner eigenen Dienstwaffe!
Radspieler lacht verächtlich.
»Dann betrachten Sie das mal als eine kostenlose Nachhilfestunde,
Frau Morgenstern ...«
Marthas Blutdruck steigt. Er
ist Arzt. Er merkt, dass mein Blutdruck bei 200 angelangt ist.
Er kostet das aus.
»Das Mädchen hat keine
Eltern. Es erfährt wenig Aufmerksamkeit. Es will sich diese
Aufmerksamkeit holen. Leider auf meine Kosten.« Er zieht die
Augenbrauen nach oben. Martha liest aus seinem Gesichtsausdruck ein Hast du das verstanden???
Sie fragt sich, warum ihr die
Fäden so schnell entglitten sind. Sie hat keine Idee mehr. Sie
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