Mensch, Martha!: Kriminalroman
haben«, seufzt sie.
Radspieler geht auf Augenhöhe
mit Rebekka. So macht er es auch mit seinen kleinen Patienten, wenn
er ihnen erklären muss, wie wichtig die Impfung, wie notwendig eine
Blutentnahme ist. Er hält sie an den Schultern fest.
»Rebekka, ich weiß nicht, was
heute noch alles passieren wird ...«
»Ich finde, heute ist schon
genug passiert«, unterbricht sie ihn. »Das reicht für morgen und
nächste Woche auch noch.«
»Was immer heute noch
geschieht – sollte sich eine Möglichkeit ergeben, dass du
weglaufen kannst, dann mach das!«
»Und du?«
Er fährt fort, ohne auf ihre
Frage einzugehen. »Die Haustür unten ist nicht verschlossen.
Sie wird von außen aufgesperrt und fällt dann ins Schloss. Das
heißt, du kannst sie von innen aufmachen.«
»Und du? Willst du nicht weg
von hier?«
»Doch, natürlich. Aber sollte
es nur dir gelingen, dann läufst du alleine weg.«
Rebekka überlegt. Sie beißt
sich auf die Unterlippe. »Und wenn es dir gelingt, läufst du dann
auch alleine weg?«
Er zieht sie dicht zu sich her.
»Nein, ohne dich gehe ich hier nicht weg.«
»Ganz bestimmt nicht?«
»Ganz bestimmt nicht.«
»Du, ich hab ganz schlimmen
Durst.«
»Rebekka, hast du das alles
verstanden? Wenn du entschlüpfen kannst, rennst du nach links. Weißt
du, wo links ist?«
Rebekka überlegt kurz. »Ja,
hier!« Sie wedelt mit der richtigen Hand.
»Du kommst dann schnell an
eine große Straße. Es ist inzwischen mitten in der Nacht, es
sind nicht mehr viele Leute unterwegs. Aber an der Ampel stoppen die
Autos. Klopfe an eine Scheibe. Möglichst ein Taxi oder eines,
in dem eine Frau sitzt. Bitte sie, die Polizei zu rufen ...«
Rebekka winkt müde ab. »Das
ist so kompliziert! Das Beste ist doch, wir laufen zusammen weg,
oder?«
Zum Glück kann Thomas Stadtpläne lesen, als
wären sie eingängige Texte, deren Inhalt man sich einfach
merkt und später wieder abruft. Er muss unterwegs nie erneut
nachschlagen oder gar den Stadtplan mit der Fahrtrichtung mitdrehen.
Er hält vor einer Polizeiwache.
»Komm, die werden uns sagen,
wo diese Buchbinderei Schilling zu finden ist!«
Thomas klingelt. Sie werden
über die Sprechanlage angesprochen. Thomas hält seinen Ausweis
in die Kamera. »Oberkommissar Hiller und Oberkommissarin
Morgenstern. Wir brauchen eine Auskunft.«
Die Tür öffnet sich
automatisch. Ein junger Polizist in Uniform kommt ihnen entgegen.
»Wir suchen eine Buchbinderei
Schilling. Möglicherweise existiert der Betrieb nicht mehr. Sie
muss in eurem Revier liegen.«
»Schilling & Sohn«, sagt
ein anderer Polizist von hinten. Er füllt gerade Wasser in eine
Kaffeemaschine. »Hier!« Er zeigt auf einen großen Stadtplan an der
Wand. »Hier sind mehrere kleine Fabriken und Lagerhallen.« Er
umkreist mit dem Finger eine kleine Stichstraße. »Und das war
Schilling & Sohn. Tatsächlich ist der Betrieb pleitegegangen.«
Thomas Augen wandern drei
Sekunden lang über den Plan.
»Braucht ihr Unterstützung?«
fragt der junge Polizist.
Thomas schaut kurz zu Martha.
Die schüttelt den Kopf. »Nein, im Moment nicht. – Komm, Martha!«
Der Polizist schaltet die
Kaffeemaschine an. »Da kommt heute noch was, wetten?« sagt er zu
seinem jungen Kollegen. »Wir bringen schon mal eine Streife in
Position.«
»Schadet sicher nicht.«
Sie hören schnelle Schritte auf der Treppe.
»Jetzt merken Sie, dass ich die Plastikbänder
zerschnitten habe«, sagt Rebekka ängstlich.
Radspieler nimmt sie an der
Hand und stellt sich rechts neben die Tür. Rebekka drängt sich an
ihn; er drückt sie rechts von sich gegen die Wand und legt den
Finger an die Lippen.
Die Tür fliegt auf. »Du
Scheißkerl!« schreit Claus Zeller, als er den Raum betritt. »Was
sollte die Fahrt ...« Ohne Rebekkas Hand loszulassen, schnellt
Radspielers Faust nach vorn und trifft Zellers linke Gesichtshälfte.
Radspieler nutzt den Überraschungsmoment und schlägt noch einmal
zu. Fünfzig Rezeptformulare flattern durch das Zimmer. Zeller liegt
am Boden und versucht zu begreifen, was passiert ist.
Radspieler läuft mit Rebekka
aus dem Zimmer, dreht den Schlüssel um und steckt ihn in die
Hosentasche. Wieder legt er den Finger an die Lippen.
Von
unten hören sie Geräusche aus einem Fernseher. Eine Frau kreischt,
Schüsse knallen, Reifen quietschen. Radspieler schleicht mit
Rebekka die Stufen hinunter. Auf halber Treppe hört er oben ein
Geräusch.
»Was soll denn das?« Oben auf
dem Treppenabsatz steht Frank Zeller. Er hat die
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