Mensch, Martha!: Kriminalroman
alten Schulta. Sein Auge braucht eine
Sammellinse.
Martha gießt die Grünpflanzen
und holt vergammelte Lebensmittel aus dem Kühlschrank. Die
ganze Zeit kämpft der Begriff, der ihr Gefühl treffend beschreiben
würde, darum, gefunden zu werden. Martha macht einen großen Bogen
um ihn. Sie hat Angst vor ihm.
Der freundliche Mann an der Pforte hat eine gute
Nachricht für Martha. Radspieler liegt inzwischen auf Station C,
Zimmer 355.
Martha kauft Blumen. Auf einer
Plastikhalterung neben dem Türstock ist ein Pflasterstreifen
geklebt, auf dem mit Kuli
geschrieben sein Name steht. Mit einem Gefühl der Erleichterung
klopft sie an. Es ist eine Tür, die sie öffnen kann und
darf. Sobald jemand Herein! sagt.
Niemand sagt Herein!, aber
Martha öffnet sie trotzdem. Er hat offensichtlich ein Einzelzimmer.
Er ist nicht da, es ist kein Bett da. Sie legt Blumen und Kleidung
auf dem Tisch ab.
Martha findet eine
Krankenschwester auf dem Korridor. Laut Anstecker befindet sie
sich noch in Ausbildung. »Herr Radspieler wurde nochmals operiert.
Er ist noch im Aufwachzimmer.«
Hätte ich einen Wunsch
frei, würde ich ihn gut anlegen. Ich möchte bei dir sein. Jetzt.
Martha organisiert eine Vase
für die Blumen und wartet eine halbe Stunde. Dann muss sie los. Sie
will Frau Kaufmanns Hilfsbereitschaft nicht gleich am ersten Tag
strapazieren.
Sie sucht die Intensivstation
auf. Eine Woche lang hatte sie sich davor gefürchtet, Schwester
Britta würde die Türe öffnen. Jetzt hofft sie es. Es ist ihr ein
Bedürfnis, sich von ihr zu verabschieden.
Martha hat Glück.
»Sie? Herr Radspieler wurde
heute auf Station verlegt. Fragen Sie unten an der Pforte nach, auf
welche.«
Er ist jetzt im offenen
Strafvollzug . »Ich weiß das bereits. Ich habe ein
Abschiedsgeschenk für Sie!« Martha holt Rebekkas gut gelungene
Zeichnung aus der Jackentasche, entfaltet das Blatt und reicht es
ihr. »So sieht Sie meine Tochter. Jetzt tun Sie mir mal einen
Gefallen. Denken Sie darüber nach, wie Ihre Schwerverletzten und
Frischoperierten Sie sehen.«
Schwester Brittas Mund wird eng
wie eine Düse. »Ich mache hier nur meine Arbeit. Ich halte mich an
die Anweisungen.«
»Genau wie ein Kampfhund.«
Martha holt Rebekka am Freitag überpünktlich bei
Susanna ab. Daheim packen sie Schlafsack, Schlafanzug,
Waschzeug, den Teddybären Edmund und fünfzig andere
Sachen für das Übernachtungsfest in der Schule ein.
Martha bringt sie hin und
beneidet die Lehrerin nicht, die mit fast dreißig Zweitklässlern
eine Nachtschicht einlegt. Für Martha fällt nur noch ein flüchtiges
Küsschen ab; Rebekka ist schon mitten im Geschehen.
Zu Hause nimmt Martha ein Bad
und macht die Rosenlotion leer. Sie föhnt sich die Haare und
betrachtet das Ergebnis kritisch im Spiegel. Martha Morgenstern,
wo gehst du hin? Gehst du zu einem Rendezvous oder machst du einen
Krankenbesuch? Bleib gefälligst auf dem Teppich!
»Ich soll Sie von Rebekka grüßen. Sie kommt
heute nicht. Lesenacht in der Schule.«
Ob er das merkt? Wie sich
meine Atmung beschleunigt, sobald er mich ansieht?
»Ich hab Ihnen etwas
mitgebracht.« Martha holt aus Ihrem Rucksack zwei Flaschen Pils
und zwei Gläser, die sie in ein Geschirrtuch eingewickelt hat.
»Martha Morgenstern. Sie sind eine kluge und aufmerksame Frau!«
Er richtet sich in
seinem Bett etwas auf und verzieht dabei das Gesicht.
Sie muss ihm helfen, das Glas
zu halten. Seine Hand ist immer noch geschient, der rechte Arm ist
durch den Gipsverband bewegungsunfähig. Sie berührt seine
Fingerspitzen. Die Ameisen tanzen über das Parkett. Sie hinterlassen
ein Kribbeln und Prickeln.
»Martha Morgenstern, ich
möchte, dass Sie nicht mehr herkommen.«
Martha spürt einen
Bauchschuss. Ihr Schluckreflex wird ausgelöst. Die Ameisen
stutzen.
»Und warum?« Später wird sie
sich über diese Frage maßlos ärgern.
»Es ist alles so ... ohne
Erotik.«
Trotz allem muss Martha lachen.
»Denken Sie hier etwa an Erotik?«
»Eben nicht. Ganz und gar
nicht. Das ist es ja.«
Zum ersten Mal registriert
Martha die kleinen Fältchen in seinen Augenwinkeln.
»Genau das ist der Punkt. Ich
wüsste zu gerne, ob ich daran denken würde, wenn ich Sie sehe.
Das kann ich hier nicht feststellen. In einem Krankenhausbett bei
Pfefferminztee aus der Schnabeltasse geht das einfach nicht.«
Martha entdeckt in seinen Augen
einen doppelten Boden.
»Als
ich Sie das erste Mal sah, als Sie ihr Büro betraten ...«
Da
hätte ich dir am liebsten ins Gesicht gespuckt.
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