Mensch ohne Hund: Roman (German Edition)
einzeln ihren Weg über die rissigen Lippen und erreichten nur mit Mühe und Not Barbarottis Trommelfell.
»Setz dich, Sara.«
Er zog einen Küchenstuhl heraus, und sie setzte sich. Er legte ihr die Hand auf die Stirn. Sie war heiß wie ein Bügeleisen. Sie schaute ihn mit leerem Blick und halb gesenkten Augenlidern an.
»Ich glaube … nicht … dass ich … in der Lage bin …«
»Hast du Fieber gemessen?«
»Nein.«
»Sara, geh wieder ins Bett. Ich komme mit etwas zu trinken und dem Thermometer. Du siehst wirklich nicht gesund aus.«
»Aber Mama … und Malmberg …?«
»Das ist abgeblasen«, sagte Gunnar Barbarotti. »Außerdem muss ich sowieso ein bisschen arbeiten. Wir bleiben hier und feiern Weihnachten hier in Kymlinge, du und ich.«
»Aber …«
»Kein aber. Soll ich dir helfen, wieder ins Bett zu kommen?«
Sie stand auf, schwankte ein wenig, er stützte sie, indem er ihr den Arm um die Taille legte.
»Danke, Papa, aber ich kann selbst gehen. Ich muss auch erst pinkeln... aber wenn du... wenn du mir etwas zu trinken bringen kannst, dann wäre ich … wäre ich dir dankbar …«
»Aber natürlich, mein Mädchen«, sagte Gunnar Barbarotti.
Er suchte zwei Kopfkissen mit sauberen Bezügen heraus. Schüttelte das Bett auf, stopfte es um seine Tochter herum fest, platzierte zwei Gläser auf dem Nachttisch – eines mit Wasser, das andere mit Preiselbeersaft – wartete, während sie Fieber maß – 39,2 -, und als er merkte, dass sie wieder eingeschlafen war, schlich er vorsichtig aus ihrem Zimmer.
Führte zwei Telefongespräche.
Das erste mit Hauptkommissar Asunander, um zu erklären, dass er den Fall mit den beiden Vermissten übernehmen würde.
Das zweite mit seiner früheren Ehefrau, um bedauernd mitzuteilen, dass leider etwas dazwischengekommen sei. Sara lag mit neununddreißig Grad Fieber im Bett und schaffte es nicht einmal, aufzustehen.
Als das erledigt war, ging er ans Fenster im Wohnzimmer und warf einen Blick auf den grauvioletten Dezemberhimmel.
»Ich danke ganz untertänigst«, murmelte er. »Und bitte, im Januar wiederkommen zu dürfen.«
Dann holte er sein schwarzes Heft heraus und machte sich Notizen.
17
B evor er sich in die Allvädersgatan 4 begab, an den Punkt, von dem aus die Vermissten nach allem, was anzunehmen war, aufgebrochen waren, fuhr er im Polizeirevier vorbei und bekam ein Briefing von Sorgsen.
Sorgsen hieß eigentlich Borgsen, Gerald mit Vornamen, norwegisch von Geburt. Er arbeitete inzwischen seit fünf Jahren in diesem Bereich und legte – wie Backman es auszudrücken pflegte – eine bemerkenswert ausgeprägte Integrität an den Tag. Er war um die Fünfunddreißig, wohnte etwas außerhalb der Stadt, in Vinge, zusammen mit seiner Frau und zwei Kindern. Er nahm nie an irgendwelchen außerdienstlichen Aktivitäten mit den Kollegen teil, ging nie mit ein Bier trinken, er schien keine besonderen Interessen zu haben, und er machte fast immer den Eindruck, ein wenig sorgenvoll zu sein, deshalb der Spitzname.
War aber ein tadelloser und kompetenter Polizeibeamter, da gab es keinen Zweifel.
Das Briefing dauerte zehn Minuten. Sorgsen hatte eine Zusammenfassung auf zwei DIN-A-4-Seiten verfasst, und er ging noch einmal alles mündlich durch.
Zwei Personen waren von demselben Anzeigeerstattenden als vermisst erklärt worden, von einem gewissen Karl-Erik Hermansson, 65 Jahre alt, ehemaliger Oberstufenlehrer in der Kymlinge-Schule und frischgebackener Pensionär. Die beiden Vermissten waren zum einen sein Sohn Walter Hermansson, 35 Jahre alt, der im Zusammenhang mit einem Besuch bei seinen Eltern in der Allvädersgatan irgendwann im Laufe der Nacht zwischen Montag, dem 19., und Dienstag, dem 20. Dezember, verschwunden war – zum anderen der Enkelsohn Henrik Grundt, 19 Jahre alt, der im Laufe der folgenden Nacht verschwunden war, das heißt also zwischen dem 20. und 21. Dezember. Sowohl Walter als auch Henrik waren aus Anlass eines doppelten Festtages am 20. in Kymlinge zu Besuch, Karl-Erik Hermansson selbst war da 65 Jahre, seine Tochter Ebba (Henriks Mutter) 40 Jahre alt geworden.
Normalerweise hatte Walter Hermansson seinen Wohnsitz in Stockholm. Henrik Grundt war bei seinen Eltern in Sundsvall gemeldet, hatte aber außerdem ein Zimmer in einem Studentenwohnheim in Uppsala, wo er soeben das erste Semester seines Jurastudiums beendet hatte. Oder besser gesagt, es im Januar hatte beenden wollen, da die Prüfungen erst im neuen Jahr stattfanden.
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