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Menschen und Maechte

Menschen und Maechte

Titel: Menschen und Maechte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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Sekunden«, oder man meinte ironisch: »Halten Sie sich an das bewährte Motto – lange Fragen und kurze Antworten!« In solcher Lage gibt es oft mehrere Möglichkeiten: Man kann ohne Rücksicht auf positive Fernsehwirkung in wenigen Sätzen seine Meinung klar sagen, ohne sie freilich ausreichend begründen zu können; man kann mit Rücksicht auf das Fernsehpublikum einige Freundlichkeiten sagen, ohne den eigentlichen Gegenstand klar zu behandeln; man kann noch weiter gehen und dem Publikum nach dem Munde reden. Reagan scheint die mittlere Lösung am meisten zu liegen. Ich selbst habe in solcher Lage oft die sogenannten Kurzinterviews verwünscht. Je weiter man der Meinung des Publikums oder seiner Erwartung entgegenkommt, um so größer ist die Gefahr, auf Orientierung und Führung zu verzichten.
    Das Agieren vor der Kamera ist jahrzehntelang Reagans Beruf gewesen. Als Filmschauspieler oder Fernsehsprecher spricht man aber Texte, die andere geschrieben haben – man lernt nicht, zu extemporieren oder zu improvisieren. Reagans Fernsehtexte sind – abgesehen von den wenigen live-gesendeten Fernsehduellen mit einem Gegenkandidaten – in der Regel sorgfältig vorbereitet; daß sie tatsächlich sogar abgelesen werden, bleibt dem Publikum verborgen. Als Reagan im Juni 1982 während seines offiziellen Besuches in Bonn eine Ansprache im Bundestag hielt, war ich außerordentlich beeindruckt nicht nur von Inhalt und Form seiner Rede, sondern auch von der Leichtigkeit, mit der er ohne Manuskript formulierte, wobei er mal die linke, mal die rechte Seite des Hauses, mal die Mitte anblickte, dabei Rhetorik und Gestik wirkungsvoll miteinander verbindend. Erst danach erfuhr ich, daß ihm sein sorgfältig redigierter Text in die drei Glasscheiben hineingespiegelt worden war, die ihn nach drei Seiten hin abschirmten und die ich fälschlicherweise für Sicherheitsglas zur Abwehr eines möglichen Attentats gehalten hatte; in Wirklichkeit waren es sogenannte Teleprompter gewesen. Mein verstorbener Freund Nahum Goldman hat mir einmal mit bissigem Humor gesagt: »Reagan? Nur ein
Schauspieler! Aber ich muß einräumen, er spielt die Rolle eines schlechten Präsidenten ganz meisterhaft!«.
    Ein schlechter Präsident war Ronald Reagan zunächst nicht, sicherlich nicht für seine amerikanischen Landsleute. Aber ebenso gewiß war und ist er ein herausragender Fernsehschauspieler. Er kann die Amerikaner, ihre Stimmungen, Gefühle und Affekte in genialer Weise ansprechen und mobilisieren. Dabei hat er – und das gilt auch für seine Ghostwriter und den größeren Teil seines Stabes insgesamt – ein gutes Gespür für die Stimmungslage seiner Nation, sowohl für die jeweils aktuelle Gemütsverfassung als auch für die in tieferen Schichten liegenden Ideale, Idole, Wunschträume, Legenden und Rituale Amerikas.
    Die Abendnachrichten und Kommentare im Fernsehen zu verfolgen, war schon für Jimmy Carter und seinen Stab wichtiger als das tägliche Studium von »New York Times«, »Washington Post«, »Los Angeles Times« oder »Wall Street Journal«; denn erst die Beobachtung der täglichen Nachrichtensendungen gab Carter und gibt Reagan und ihren Stäben einen Eindruck von dem, was aktuell ist und was ihr Publikum gerade bewegt. Daraus bilden sie sich ihr Urteil darüber, was opportun und was inopportun ist – und daraus ergeben sich viele der politischen Äußerungen und Entscheidungen des nächsten Tages.
    Auf ein Ereignis, das im Fernsehen keine Rolle gespielt hat, braucht der Präsident keineswegs zu reagieren. Wenn aber das Fernsehen der fernsehenden Nation ein Ereignis – und sei es in noch so einseitigen Ausschnitten der Wirklichkeit – eindringlich vorgeführt hat, so muß das Weiße Haus dazu Stellung nehmen, in vielen Fällen noch am gleichen Tage, das heißt rechtzeitig zu den abendlichen Nachrichten- und Magazinsendungen, die am nächsten Vormittag zum Teil wiederholt werden. Infolgedessen werden manche politischen Entscheidungen in großer Hast und deshalb fehlerhaft getroffen. Dies gilt mitunter auch für solche Entscheidungen, die den Zweck verfolgen, durch ein positives Schauspiel die Aufmerksamkeit von dem als negativ empfundenen Drama des Vortags abzulenken. Fernsehdramaturgie tritt vielfach an die Stelle von Staatskunst.

    Aus solchen Situationen entstanden die übereilten Entscheidungen Carters für das Weizenembargo oder den Olympiaboykott nach dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan oder Reagans Absage eines Treffens

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