Menschenfänger
reichte Nachtigall den umfangreichen Ordner über den Tisch.
»Er isch praktisch genau so vorg’ange wie bei Johanna. Ist scho ein entsetzlicher Anblick.«
»Ja – aber es muss ja noch ein bisschen mehr über ihn drinstehen. Die Tonbandprotokolle werde ich mir natürlich anhören. Aha, hier: Er wurde am 25. September 1974 geboren. Demnach ist er jetzt also 32, das wussten wir ja schon. Die Morde hat er vor acht Jahren begangen, mit 24. Die Opfer waren zwei Prostituierte, die ihre Dienste in Zeitungsannoncen anboten. Er gab sich als Freier aus, vereinbarte telefonisch einen Termin und quälte die Frauen dann zu Tode. Johanna Merkowski war Model – vielleicht liegt hier ein Motiv. Er hasst Frauen, die ihre Körper zur Schau stellen. Vom Alter her passt das Opfer auch zu den beiden anderen.« Nachtigall blätterte weiter. »Und hier gibt es auch keinen Vermerk auf regelmäßige Besuche. Sieht so aus, als habe sich sein Umfeld von ihm abgewandt. Dann hätte er hier tatsächlich niemanden mehr, bei dem er unterkriechen kann.«
Weiter hinten im Ordner stieß er wieder auf Tatortfotos. Er sah Körper, die geschunden worden waren und aus deren Gesichtern die blicklosen Augen weit aufgerissen in die Kamera starrten.
»Er hat ihnen schon damals die Augenlider festgeklebt.«
»Mann, der muss wirklich eiskalt sein. Schmort sieben Jahre im Gefängnis und wenige Stunden nach der Flucht tötet er schon wieder! Was ist denn das für ein abartiger Typ!«, machte Albrecht Skorubski sich Luft.
Am Ende der Akte fanden sich Protokolle über die Führung des Häftlings während der Verbüßung seiner Strafe. Er sei umgänglich, war da zu lesen, stets freundlich und bemühe sich aktiv, Konflikte zwischen den Insassen und dem Personal zu schlichten. Er trage damit zur erfolgreichen Deeskalation bei Streitigkeiten bei. Nie sei er auffällig oder schwierig.
»Ein Musterhäftling!«
»Vielleicht dachte er, er käm so früher raus«, mutmaßte Michael Wiener.
»Wo mag der Typ nur abgetaucht sein? So schwer kann es doch nicht sein, ihn zu finden!«, schimpfte Albrecht Skorubski.
»Der hält sich für unglaublich gerissen: Er ist geflohen, und nur kurze Zeit später ist es ihm gelungen, erneut einen Mord zu begehen – während ein riesiges Polizeiaufgebot Jagd auf ihn macht. Wie ein desorientierter, unorganisierter Flüchtling wirkt er nicht auf mich, eher, als sei er ausgesprochen gut vorbereitet. Ich fürchte, der wird uns noch eine Weile beschäftigen«, orakelte Nachtigall und sollte recht behalten.
17
Klaus Windisch ging auf dem Spreedamm entlang und entspannte sich bei einem abendlichen Spaziergang. Spaziergänger wie er grüßten freundlich im Vorübergehen, und eine unbeschwerte Leichtigkeit erfasste ihn. Der ungewöhnlich warme Herbst dehnte den Sommer, und die Menschen freuten sich über jeden Sonnenstrahl, den sie tanken konnten, bevor der Winter doch noch über sie hereinbrechen würde. Neue Spazier-, Wander- und Reitwege waren in den Jahren seiner Abwesenheit entstanden, und das Sportzentrum hatte sich als Olympia-stützpunkt gehalten. Ja, sportlich war diese Stadt schon immer gewesen, dachte er und beobachtete ein Eichhörnchen, das ein Beutestück als Wintervorrat im Waldboden vergrub.
Noch war es für ihn kein Problem, einen Unterschlupf zu finden, bei den Temperaturen brauchte man nur ein Dach über dem Kopf, warme Decken, aber keine Heizung. Erst wenn in ein paar Wochen der Frost in die Stadt zog, würde es für ihn schwieriger werden. Kein Problem, das er nicht lösen konnte, dachte er und pfiff beschwingt ein Kinderlied vor sich hin.
Nach acht Jahren war vieles in der Stadt für ihn neu gewesen, aber Orientierungsprobleme hatte er zum Glück nicht gehabt. Er war in einem neuen Supermarkt um die Ecke einkaufen gegangen, Jeans und ein paar T-Shirts, Farbe für die Haare, Sneakers und Lebensmittel. Selbst an Fleecedecken, Kerzen, Taschenlampe und ein Buch hatte er gedacht. Auf Evelyn konnte man sich eben verlassen, dachte er zufrieden, wenn sie sagte, es würde Geld in einem Schließfach am Bahnhof liegen, dann stimmte das auch, und der Schlüssel aus der Anzughose, die sie für ihn besorgt hatte, passte.
Die kleine Johanna, das war wirklich der ganz große Hit gewesen. Im Radio berichteten sie schon seit dem Nachmittag darüber. Er genoss das aufsteigende Glücksgefühl, die Euphorie, die ihm die Tränen in die Augen steigen ließ. Er hatte ihr einen fantastischen Abgang verschafft!
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