Menschenfänger
fuhr.
Einen Moment betrachtete sie den pulsierenden Blutstrom, dann wischte sie den Finger mit Küchenpapier ab und lief hinauf ins Bad, um Kräuterpaste und Pflaster zu holen.
30
Franka Lehmann schloss die schwere Haustür auf. Es war spät geworden, die Lehrerkonferenz hatte mal wieder länger gedauert als erwartet.
Sie merkte, wie der Ärger wieder in ihr hochstieg. So viel Zeit vertan, um das zu besprechen, was sie nun schon seit Jahren bei beinahe jeder Konferenz besprachen: Die Schüler sollten mehr Disziplin halten, die Pausenaufsicht habe sich pünktlich zum Beginn der Pause auf dem Hof einzufinden, das Profil der Schule müsse geschärft werden, wobei das aber bitte für niemanden mit mehr Arbeit verbunden sein dürfe! Die Schulleitung hatte, wie jedes Mal, die Gelegenheit genutzt, die besonders engagierten Kollegen, zu denen auch Franka Lehmann gehörte, gehörig zurechtzustutzen. Neue Konzepte machten womöglich mehr Arbeit, und daher waren ›revolutionäre‹ Denkansätze unerwünscht.
Damit würde nun bald Schluss sein. Für ein paar Jahre wenigstens. Vielleicht konnte sie sich in der Zeit auch völlig neu orientieren. Eine kreative und leistungsstarke Frau wie sie konnte auch eine andere Aufgabe finden und darin aufgehen. Aber für eine Weile musste es noch im alten Trott weitergehen.
Wütend stieß sie den Schlüssel in das Briefkastenschloss und öffnete mit Schwung die kleine Metalltür.
Sofort stürzte ein Monsun aus buntem Papier in die Tiefe und landete vor ihren Füßen.
»Auch das noch!«, schimpfte die Mittdreißigerin leise und bückte sich, um die Briefe und die Werbesendungen einzusammeln.
»Kann ich Ihnen vielleicht helfen?«
Erschrocken fuhr sie heftig herum und hätte beinahe das Gleichgewicht verloren.
»Hoppla! Das tut mir leid! Ich wollte Sie ganz bestimmt nicht erschrecken«, entschuldigte sich der fremde Mann zerknirscht und griff sanft nach ihrem Arm.
»Ist ja nichts passiert. Das Papier war vorher schon runtergefallen.« Sie lachte und schichtete ihre Post transportgerecht unter den linken Arm, schloss den Briefkasten und griff nach ihrer Aktentasche.
»Lehrerin?«
»Ja. Sieht man mir das so deutlich an?«, fragte sie pikiert, doch er beruhigte sie sofort.
»Nein! Nein. Ihnen natürlich nicht. Nur der Tasche. So prall gefüllt muss das eine Lehrertasche sein!«
Sie ertappte sich dabei, wie sie wieder – diesmal etwas kokett – lachte. Der fremde Mann war sehr sympathisch, ungefähr in ihrem Alter, konstatierte sie, mit Augen, in denen leiser Spott funkelte, und einem unwiderstehlichen Lächeln, das seine geschwungenen Lippen umspielte.
»Das kann täuschen. Sie glauben gar nicht, wie viele meiner Kollegen mit einem Designerhandtäschchen zum Unterricht erscheinen.«
Wie selbstverständlich gingen sie nebeneinander her und nahmen die Treppe in Angriff.
»Mein Vater ist auch Lehrer«, offenbarte ihre neue Bekanntschaft. »Nun freut er sich schon auf seine baldige Pensionierung. Ich glaube, er hat die Nase wirklich voll vom Schulbetrieb.«
»Ich bin noch nicht soooo lange dabei. Bis zur Pensionierung ist es noch ein ganzes Leben!«
»Wenn man bei der Pensionierung zufrieden zurückblicken kann, hat sich der Einsatz gelohnt.«
»Stimmt. Und hoffentlich bleiben einem die positiven Dinge so gut im Gedächtnis, dass sie die negativen überdecken. Erinnerungen an Schüler, die man voran gebracht hat, denen man Chancen auf eine glückliche Zukunft eröffnen konnte«, meinte sie, und er hörte, wie traurig sie war.
»Nicht so gut gelaufen heute?«, fragte er mitfühlend, und sie nickte. Es tat ihr gut, mit jemandem zu reden, der die Problematik wirklich verstand. Mit leisem Bedauern registrierte sie, dass sie ihre Wohnungstür erreicht hatten.
»Na – dann noch einen schönen Abend«, wünschte sie dem Fremden und kramte in der Tasche nach ihrem Schlüssel.
»Unten links, unter dem Portmonee«, lachte er. »Da ist er immer. Eingeklemmt und unerreichbar. Sie werden schon sehen!«
Triumphierend zog sie den großen Bund aus der Tasche und schob den Schlüssel ins Schloss.
Der fremde Mann ging allein weiter.
Eine Dreiviertelstunde später hatte Franka Lehmann ihn schon vergessen. Sie hatte sich bequeme, weite Jeans angezogen, ihr Abendessen vor dem Fernseher eingenommen und ein halb geleertes Glas Apfelsaft vor sich auf dem Tischchen stehen. Die Ruhe entspannte sie, wohlige Wärme breitete sich bis in die Finger- und Zehenspitzen aus. Der Alltag begann, in die
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