Menschenfänger
Eltern könnte sein Bedürfnis danach ein wenig dämpfen, wenn er erkennt, wie sehr andere unter ihm leiden. Es könnte das Leben der Frau verlängern. Wir müssten sie entsprechend vorbereiten. Aber das Risiko ist hoch, dass er ihnen die tote Tochter zurückgibt, um zu beweisen, dass ihn solche Bitten nicht beeindrucken. Ich fürchte, wir würden Letzteres erreichen.«
»Aber möglicherweise bekämen wir auch etwas mehr Zeit, um sie noch rechtzeitig zu finden«, wandte Albrecht Skorubski ein.
»Im Gutachten der Kollegen steht, er sei eine ausgesprochen labile Persönlichkeit, immer bemüht, die eigene Leistung – und sei sie noch so klein – in den Vordergrund zu stellen. Er verhält sich gerne so, dass die allgemeine Meinung über ihn positiv ausfällt, er also gelobt wird. Aber für Mord wird man nicht gelobt. Das weiß er auch. Also, wenn überhaupt, dann müssen wir erreichen, dass er glaubt, er würde irgendwie für sein Verhalten belohnt. Das ist in dem Fall besonders schwierig.«
Drei Augenpaare sahen den Psychologen verständnislos an.
»Na, wenn ihr bedenkt, wie er sich gemeinhin belohnt – womit wollt ihr das überbieten? Eigener Fernseher in der Zelle?«
Betretenes Schweigen erfüllte den Raum.
»Gibt es einen Freund?«, fragte Couvier ungewöhnlich laut, als wolle er die Stille verscheuchen.
»Ja«, antwortete Michael Wiener, »zur Zeit auf Expeditionstour im ewigen Eis. Knut.«
»Schade. Das wäre vielleicht ein Weg gewesen. Eine Art Wettlauf zwischen gleichwertigen Partnern.«
»Er kennt ihn doch mit Sicherheit nicht. Wir könnten ihm einen Freund unterjubeln!«
»Gut. Einen Versuch ist es vielleicht wert. Ich übe mit ihm.« Emile Couvier sah sich um. »Von uns kommt aber keiner in Frage.«
»Doch. Ich könnt das mache!« Michael Wiener zappelte aufgeregt. »Ich kann mich scho ein bisschen älter mache. Des klappt scho!«
»Einverstanden. Wir fangen gleich mit deinem Text an, und morgen früh laden wir das Fernsehen und die Presse ein.«
Es klopfte und ein Kollege brachte den Schlüsselbund aus Franka Lehmanns Wohnung.
»Wie bei den anderen. Der eigene Schlüssel ist nicht da – und der, den wir finden, passt zu keinem Schloss in der Wohnung. Aber er öffnet Alexandra Legners Tür.«
Sie bedankten sich, und der Kollege schloss die Tür hinter sich. Einen Moment lang lauschten sie seinen sich entfernenden Schritten. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach.
»Können wir nicht sonst noch etwas tun? Ich kann doch nicht untätig hier rumsitzen und darauf warten, dass wir wieder eine Tote finden!«, brach Nachtigall schließlich das Schweigen.
»Warnen. Und an der Freundin dranbleiben. Egal, was für eine Beziehung sie zu ihm hat: Mit der Entführung hat er eine andere Frau zu sich mitgenommen. Sie wird eifersüchtig sein. Schließlich ist diese Frau jetzt bei ihm, es besteht die Gefahr, dass er sich in sie verlieben könnte, und dann ist diese Hildegard womöglich aus dem Rennen. Das wird ihr nicht gefallen. Selbst wenn sie glaubt, er sei unschuldig, kannst du, wenn du geschickt bist, Zweifel in ihr aufkommen lassen.«
Nachtigall verstand und begann sofort, sich Worte und Formulierungen für seinen nächsten Besuch bei Hildegard Clemens zurechtzulegen.
39
Jule saß an Tante Ernas Bett.
Auf ihrem Schoß lag Frantzens Buch ›Korrekturen‹, aus dem sie der Patientin vorgelesen hatte. Nachtigall war stolz auf seine schöne Tochter, und immer, wenn er ihr begegnete, war er traurig darüber, dass sie nun ihre eigene Wohnung hatte, am Altmarkt mit Emile Couvier lebte und nur noch selten Zeit für ihren Vater erübrigen konnte. Aber wenn sie gebraucht wurde, war sie da!
Es tat ihm leid, die Zweisamkeit der beiden Frauen gestört zu haben, doch das war nun nicht mehr rückgängig zu machen. Sie würden eine Absprache treffen für die Zeit, die Tante Erna stationär bleiben musste, und so ihre Anwesenheiten besser planen, beschloss er.
Jule legte ein Lesezeichen ein und klappte das Buch zu.
»Hallo, Papa!«, freute sie sich und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln.
Er begrüßte die beiden Damen und Jule sah unschlüssig von einem zum anderen. Dann erklärte sie unvermittelt nach einem hastigen Blick auf die Uhr, sie müsse nun aufbrechen, Emile habe Karten fürs Theater und sie müsse sich noch umziehen.
Nachtigall nahm auf dem frei gewordenen Stuhl Platz.
»Peterchen, sie sind überhaupt nicht zufrieden mit meinen Werten. Und wenn sie zu mir kommen, gucken sie immer
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