Menschenfänger
Einige der Spritzen waren damit verseucht.«
»Abgetrieben? Verseucht?« Nachtigall konnte nicht so schnell folgen.
»Ja. Die akute Leberentzündung überstand ich – aber man wies mich darauf hin, dass sich Spätfolgen einstellen könnten. Nach der Wende wurden viele Gutachten erstellt und in einzelnen Fällen auch Entschädigungen bezahlt. Ich habe bis ins hohe Alter gut damit gelebt. Wer weiß, woran ich nun sonst sterben würde.«
»Hast du das Baby unseretwegen abgetrieben?«, fragte Nachtigall mit schwankender Stimme.
Tante Erna sah ihn ernst an. »Nein. Mit euch hatte das nichts zu tun. Nur mit mir.«
»Nur mit dir? Und die Rechte des Babys?«
»Ich wusste, dass du das nicht verstehen kannst. Klar, Julian wäre vielleicht ein guter Vater gewesen. Sogar ein guter Mann. Aber ich wollte keinen – ich liebe meine Freiheit, und das war schon immer so. Ein Baby, eine Heirat, das wären lauter Einschränkungen gewesen, die ich nicht auf mich nehmen wollte.«
Nachtigall stand abrupt auf und trat ans Fenster.
»Du kannst das nicht verstehen, Sabine auch nicht. Sie ist gerne schwanger und genießt diese Zeit. Sie liebt ihre Babys und all die Arbeit, die damit verbunden ist«, war die leise Stimme Tante Ernas aus dem Bett zu vernehmen. »Deshalb habe ich nie mit euch darüber gesprochen. Aber den Preis habe ich bezahlt – nicht ihr – vergiss das nicht. Doch ich will mich nicht beschweren. Es war purer Leichtsinn, sich auf sein Alter als Verhütungsmittel zu verlassen!«
»Tochter oder Sohn?«
»Ich weiß es nicht.«
»Sabine hat doch auch mit 40 …«
»Ja. Heute ist das kein sooo großes Problem mehr. Die medizinische Versorgung ist besser. Damals wäre ich ein Exot gewesen. Womöglich hätte ich Schwangerschaft und Entbindung gar nicht überlebt!«
»Du weißt, wie ich dazu stehe.«
»Ja. Aber das war nicht deine Entscheidung. Ich erwarte nicht, dass du das verstehst oder gar billigst – obwohl ich gehofft habe, du könntest es ruhiger tragen. Das einzige, worum ich dich bitte, ist, Sabine nichts davon zu sagen. Sie würde es vielleicht sogar verstehen – aber dennoch.«
»Gut. Ich behalte es für mich«, versprach Nachtigall unterkühlt.
»Ich bin sehr müde, Peter. Geh nach Hause und versuch, mich nicht zu hassen.«
»Ich hasse dich nicht. Ich bin traurig, auch ratlos. Werde erst mal gesund, dann reden wir weiter.«
Er trat wieder ans Bett und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn.
Die Schwester bat ihn, auf den Stationsarzt zu warten.
Der junge, dunkelhäutige Mann machte ein besorgtes Gesicht, als er Peter Nachtigall ins Arztzimmer bat.
»Ihre Tante ist eine starke und tapfere Frau, doch ihr Zustand ist kritisch, auch wenn sie alles versucht, ihre Familie vom Gegenteil zu überzeugen. Es ist uns bisher nicht gelungen, die Werte zu stabilisieren, sie isst fast gar nichts mehr. Ihre zunehmende allgemeine Schwäche verschärft das Problem – Sie wissen vielleicht, dass zu langes Liegen besonders für alte Menschen gefährlich ist. Sie atmen nicht tief genug und erkranken leicht an einer Lungenentzündung.«
»Was möchten Sie mir damit sagen?«
»Nun – Ihre Tante war sich von vornherein über ihren Gesundheitszustand im Klaren. Sie ist gut informiert und in der Lage, die Situation einzuschätzen. Was ich nicht weiß, ist, inwieweit sie ihre Angehörigen vorbereitet hat.«
»Vorbereitet? Wenn Sie die Frage nach der Ursache ihrer Erkrankung meinen: Sie hat mich gerade eingeweiht und darum gebeten, meiner Schwester den wahren Hintergrund möglichst zu verschweigen.«
»Nein, das meine ich nicht. Der Zustand Ihrer Tante ist lebensbedrohlich.«
40
Hildegard Clemens lief aufgeregt hin und her. Aus dem Bad holte sie ein kleines blaues Fläschchen mit einem winzigen Korken, umwickelte ihn mit Tesafilm und stellte das Fläschchen in eine Plastikbox.
»Das hilft gegen Verbrennungen. Man darf es aber nur ganz sparsam verwenden. Was war noch?«
»Schnittwunden. Ziemlich viele. Und sie muss auch noch was Inneres haben. Sie blutet aus … na ja, du weißt schon«, antwortete Klaus Windisch wahrheitsgemäß.
»Du solltest lieber mit ihr in die Klinik fahren. Alles, was mir so einfällt, wird sie wahrscheinlich nicht wirklich retten können!«, bat Hildegard schon zum x-ten Mal.
»Das hatten wir doch schon! Es geht nicht! Sie hat mein Gesicht gesehen, als ich sie aus der Wohnung getragen habe. Das reicht der Polizei als Beweis und sie nehmen mich fest. Das Schwein bleibt dann wieder
Weitere Kostenlose Bücher