Menschenfänger
bekümmert. Ich bin müde – ich bin zu alt zum Kämpfen.«
Ihre Hand legte sich auf seine, und er spürte erschrocken, wie kalt ihre Finger waren.
»Quatsch, dazu ist man nie zu alt«, widersprach er hastig.
»Doch, doch. Wenn du weder Appetit aufs Essen noch aufs Leben hast, ist es genug.«
»Das vergeht wieder. Ich kann nicht glauben, dass du keinen Appetit auf Jules erstes Baby hast!«
Tante Erna lächelte milde.
»Lass mich nicht länger um den heißen Brei herumreden: Ich habe Zeit genug gehabt zum Überlegen und bin zu dem Schluss gekommen, dass einer von euch alles erfahren sollte. Ich habe überlegt, wie viel Wahrheit du wohl ertragen kannst.«
»Und – zu welchem Ergebnis bist du gekommen?«
»Dass du sie wirst ertragen müssen. Sabine möchte ich die Geschichte nicht erzählen und Jule ist noch zu jung. Wahrscheinlich würdet ihr es nach meinem Tod ohnehin erfahren, aber ich will sicher sein, dass du mich verstehst. Und Geheimnisse sind nur so lange geheim, wie du persönlich darüber wachen kannst. Und meine Zeit scheint um.«
»Nun hör aber auf …«
»Willst du nun wissen, warum ich hier liege – oder nicht?«, fiel sie ihm ins Wort.
»Na gut. Ich höre«, antwortete er und spürte, wie seine Knie weich wurden.
»Peter – die Sache wird dir nicht gefallen. Das ist auch der Grund, warum ich nie darüber gesprochen habe. Deine Einstellung ist mir bekannt, und ich fürchtete deinen Zorn – oder dass du dich von mir abwendest.«
»Das muss ja wirklich ein schreckliches Geheimnis sein! Hast du nicht gewusst, dass Sabine und ich dich aus tiefstem Herzen lieben? Hast du einen Mord begangen?«
»Wie dem auch sei – es kommt nun an den Tag.« Sie atmete tief durch. »Kannst du dich noch an den schmächtigen Briefträger mit den blonden Haaren erinnern?«
»Ja, deutlich. Der Julian! Das war ein Typ. Der konnte so wunderbare Geschichten erzählen. Wenn er uns auf dem Weg getroffen hat, hielt er oft an und sagte, er könne zwischen den Zeilen lesen. Dann schloss er die Augen, ließ die Hand über der offenen Posttasche kreisen und stieß urplötzlich zu. Seine langen Finger tasteten noch ein wenig über die Briefe und zogen am Ende eine Postkarte heraus. Er las uns dann vor, was dort stand, und erfand eine lustige Geschichte dazu. Wenn da stand, hier gibt es viele nette Leute, erfand er eine tragische Liebesgeschichte, der Schreiber sei unsterblich verliebt in eine holde Ungarin, die bedauerlicher Weise schon verheiratet sei. Und ihr riesenhafter Mann neige leider zu ausufernder Eifersucht. Kaum sei es den beiden geglückt, sich schmachtende Blicke zuzuwerfen! Ich glaube, Sabine weiß bis heute nicht, dass Julian das von langer Hand vorbereitet hatte!«
»Ja, ja. Der Julian. So etwas war typisch für ihn. Er war sieben Jahre jünger als ich. Immer so fröhlich und unbeschwert. Wir trafen uns einige Male zum Baden, zum Spaziergang – na ja. Es kam, wie es eben kommen musste. Einige Wochen später entdeckte ich, dass ich schwanger war. In meinem Alter! Ich hatte gar nicht gewusst, dass man mit Mitte 40 überhaupt noch in diese Situation geraten konnte. Julian, ganz Kavalier, wollte mich sofort vom Fleck weg heiraten. Er meinte, er habe mich ohnehin demnächst fragen wollen, ob ich ihn zum Mann nähme. Nun sei es nur ein paar Tage vorgezogen. Der Altersunterschied störte ihn überhaupt nicht, beteuerte er. Mich aber. Und ich wollte auch nicht heiraten. Julian war natürlich enttäuscht. Aber mein Entschluss stand fest. Ich wollte auch keinen greinenden Balg.«
Unruhig rutschte der Neffe auf dem unbequemen Stuhl hin und her. Er ahnte, was seine Tante ihm nun gleich erzählen würde.
»Eine vertrackte Situation, und es gab schon seit Menschengedenken gute Ratschläge für Frauen wie mich. Doch irgendwie ging was schief. Im Krankenhaus diagnostizierten sie eine Fehlgeburt, trösteten mich damit, das sei in meinem Alter überhaupt nicht ungewöhnlich. Bis dahin war ich gesund. Dann kam die Spritze. Im Nachhinein ließ sich nicht mehr eindeutig klären, ob sie wirklich für mich bestimmt war oder ob eine Verwechslung vorlag. Jedenfalls bekam ich eine Anti-D-Prophylaxe. Eine ganz neue Errungenschaft. Damit soll verhindert werden, dass bei einer Rhesus-negativen Mutter das nächste zu erwartende Baby vom Körper abgestoßen wird. Nur war ja bei mir keine nächste Schwangerschaft mehr zu erwarten. Nach einiger Zeit fühlte ich mich schlapp, verlor meinen gesunden Appetit, wurde gelb. Hepatitis C.
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