Menschenfänger
löste sanft Tante Ernas Hand aus Sabines Umklammerung. »Geh nach Hause, Sabine. Deine Familie braucht dich. Conny und ich bleiben noch hier.«
»Wir telefonieren aber später miteinander, ja? Das musst du mir versprechen. Sonst habe ich keine Ruhe«, drängte Nachtigalls kleine Schwester noch, bevor sie leise die Tür hinter sich zuzog.
»Wenn sie nicht so eine eigenartige Hautfarbe hätte, könnte man glauben, sie schläft nur.«
»Sie ist stark«, flüsterte er sich selbst Mut zu und nahm auf dem Stuhl Platz, den Sabine gerade geräumt hatte.
Conny nahm einen Waschlappen, ließ lauwarmes Wasser darüber laufen und fuhr damit durch das Gesicht der apathischen Patientin. Dann griff sie nach einem Tiegel und cremte ihr sanft das faltige Gesicht ein. Heiß durchströmte Peter Nachtigall eine Welle der Dankbarkeit, als er ihr dabei zusah.
Sie bemerkte seinen Blick.
»Sonst spannt die Haut vielleicht. Das ist sehr unangenehm, und nun kann sie ja niemanden um diese kleine Gefälligkeit bitten. Sie ist darauf angewiesen, dass wir selbst merken, wie wir ihr die Situation erleichtern können.« Auch Conny hatte ihre Stimme gesenkt. Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange und erklärte, sie wolle einen Kaffee trinken gehen und käme später wieder.
Peter Nachtigall verstand: So erhielt er Gelegenheit, allein mit Tante Erna zu sprechen – vielleicht zum letzten Mal.
Als Conny gegangen war, beugte er sich nah an Tante Ernas Ohr und wisperte ihr zu: »So geht das nicht, weißt du. Du kannst doch deine Ziehkinder nicht in der Blüte ihrer Jahre allein in dieser Welt zurücklassen!! Und Sabines Kinder? Sind doch eigentlich deine Enkel! Jule? Alle brauchen noch deine Führung durch den Lebensdschungel. Du warst immer eine starke Frau, und wenn du willst, kannst du es auch dieses Mal schaffen. Uns zuliebe. Wie du schon sooft uns zuliebe alle Schwierigkeiten gemeistert hast.«
Ein Zittern durchlief Tante Ernas Körper. Sie seufzte, wie zur Bestätigung seiner Worte.
»Ich glaube, ich verstehe, warum du damals so handeln wolltest. Ich habe mich dazu nicht zu äußern – es war deine Entscheidung. Und ich kann es akzeptieren.«
Bedrückt sah er auf das kleine Gesicht herunter.
Einsamkeit machte sich in ihm breit.
Am Abend saß Conny neben ihm auf dem Sofa, hielt tröstend seine Hand und stimmte in sein Schweigen ein. Selbst Casanova entging die gedrückte Stimmung nicht, und er griff zu bewährter Therapie: Er rollte sich auf Nachtigalls Schoß zusammen und schenkte ihm sein lautestes Schnurren.
49
Paula Brusching fror.
Der Boden unter ihr war feucht.
Sie hatte den Urin unmöglich länger halten können. Nun kam sie sich schmutzig vor, fand es widerlich, so in einer stinkenden Lache liegen zu müssen. Wenn jetzt jemand käme und sie fände – wie peinlich das wäre!
Sie lauschte in die Dunkelheit.
Kein Laut.
Sollte sie darüber erleichtert sein oder sich ängstigen?
Die Zeiger auf der Uhr waren unbeirrbar vorgerückt. Sie zeigte jetzt vier Uhr. Selbst wenn sie nicht richtig ging, hatte sie den Zeitpunkt zur Einnahme der Tabletten verpasst!
Sie lauschte wieder.
Nicht ein Geräusch war zu hören, nur das erbarmungslose Ticken, das bewies, wie der Tod sich immer näher an sie heranschlich.
Angestrengt versuchte sie, sich zu erinnern, was passiert war. Sie hatte im Bett gelegen und dann … was war dann geschehen? Ihr war, als habe es geklingelt, doch sicher war sie sich nicht.
Da sie keine Vorstellung hatte, wie lange sie bewusstlos gewesen sein könnte, war es ihr auch nicht möglich, Mutmaßungen darüber anzustellen, wie lange der Transport an diesen finsteren Ort gedauert haben mochte. Lag dieser gottverlassene Ort innerhalb oder außerhalb der Stadt? Gab es in Cottbus überhaupt solch verdammt ruhige Fleckchen, ohne jedes Geräusch? Nicht einmal Autos schienen hier vorbeizufahren.
Inzwischen musste doch Benno ihr Verschwinden längst bemerkt haben. Wahrscheinlich suchte die Polizei schon nach ihr. Bevor sie die nächste Dosis versäumte, wäre sie schon wieder zu Hause und der Entführer hinter Schloss und Riegel.
Sie schluchzte leise.
Bestimmt – sie würde nicht sterben.
Was aber, fiel ihr plötzlich ein, wenn sie den Täter längst hatten und der sein Geheimnis nicht preisgab? Dann, beantwortete sie sich die Frage mit leichtem Zögern, würde sie hier sterben, obwohl der Schuldige schon verhaftet worden war – nur, weil der es so wollte.
50
Freitag
»Guten Morgen, Herr
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