Menschenfresser - Gargoyle - Posters Haus
Nachmittag war Holger etwas früher nach Hause gekommen als gewöhnlich, weil in der Firma Wartungsarbeiten durchgeführt wurden, bei denen er nur im Weg gestanden hätte. Sebastian, den sie in der Schule nur Basti und in der Familie nur Seb nannten, war noch nicht zurück.
Dass man Holger früher nach Hause geschickt hatte, hatte ihn bereits unruhig gemacht, denn es behagte ihm nicht, dass ein Haufen fremder Leute an seinen Maschinen herumhantierte und er nicht einmal dabei zusehen durfte, geschweige denn ein Wörtchen mitzureden hatte. Als er sah, dass sein Junge nicht da war, begannen seine Hände leicht zu zittern.
„Wo ist Seb?“
Karen zögerte die Antwort hinaus, und da ihr nichts einfiel, erwiderte sie wahrheitsgemäß: „Noch in der Schule. Seit vier Wochen besucht er einen Theaterkurs. Jeden Dienstag.“
„So?“ Er kam in die Küche, wo sie einen ihrer geliebten Kräutertees zubereitete. Karen fiel auf, dass er die Kanne und die Tasse, die sie benutzte, nicht anzusehen vermochte. Sie waren schmucklos und weiß. Die Erinnerungsstücke von ihrer früh verstorbenen Mutter hatte er längst alle auf dem Fußboden zerschlagen. Nun kaufte sie nur noch Geschirr, an das sich ihr Herz unmöglich hängen konnte. Massenware.
„Ja. Das Theater macht ihm eine Menge Spaß.“
„Und warum weiß ich nichts davon?“
Zunächst wollte Karen auch diese Frage mit der vollen Wahrheit beantworten: Weil du Kunst und Literatur hasst. Weil es dich nervös macht, ihn etwas in deinen Augen so Sinnloses lernen zu sehen. Weil du dich den ganzen Tag lang fragen würdest, was die Kinder dort eigentlich treiben. Kurz, weil du es nie erlaubt hättest. Stattdessen entgegnete sie: „Es sollte eine Überraschung werden. In drei Monaten werden sie ihr erstes Stück aufführen, und du wärst überraschend dazu eingeladen worden, hättest gestaunt und wärst mächtig stolz auf ihn gewesen. Seb wollte es so.“
Besonders mit dem letzten Satz versuchte sie ihn zu besänftigen, aber das funktionierte nicht. Es gab eigentlich nie etwas, um ihn zu beruhigen, wenn er erst einmal auf dem Weg zu einem seiner Ausbrüche war. Sie fühlte die Eruption kommen, und wie immer in solchen Situationen wurde sie sehr ruhig und gefasst. Hysterie kannte sie nicht. Sie fraß die Angst, die sie hatte, in sich hinein und verbarg sie an einem tiefen Ort.
„Du weißt, dass ich es nicht mag, wenn etwas hinter meinem Rücken geschieht.“ Seine Stimme klang bereits offen feindselig, auch wenn er noch mit normaler Lautstärke sprach. Auch das würde sich bald ändern. „In der Firma murksen sie an meinen Maschinen herum, und wenn ich morgen wieder hinkomme, werde ich sie nicht wiedererkennen. Alle Einstellungen werden verändert sein, und sie werden nicht einmal mehr dieselben Geräusche machen. Und nun wird sogar an meinem Sohn herummanipuliert, während ich weg bin – diese Theaterstunden bringen ihn auf dumme Gedanken. Wahrscheinlich wird er mit Vierzehn das Haus verlassen, um Pantomime oder Balletttänzer zu werden, anstatt ein anständiges Handwerk zu lernen.“
Er konnte die Gründe seiner Nervosität sehr deutlich aussprechen, ließ nie einen Zweifel daran, was es war, das ihn reizte. In diesem Punkt war er ehrlich wie ein Kind. Doch da er nicht mit sich diskutieren ließ, half seine Offenheit nicht.
Karen schüttete mit übermenschlicher Beherrschung den Tee ab. Es erstaunte sie selbst, dass ihre Hand in solchen Momenten kein bisschen zitterte. „Wie wär’s, wenn du mit ihm in Ruhe darüber redest, sobald er zu Hause ist?“, schlug sie vor. „Er müsste eigentlich in den nächsten Minuten durch die Tür kommen.“
Holger zog eine Grimasse, bei der man fast alle seine Zähne sehen konnte, die gesunden und die löchrigen. Sogar der weiche rote Fleischlappen seiner Zunge war zu erkennen, wie er sich rastlos hinter den Zähnen hin und her bewegte, einem Raubtier gleich, das man in einen viel zu kleinen Käfig gesperrt hatte. Seine Hände fuhren an der Hose auf und ab, wischten den hervorsickernden Schweiß ab und suchten die Energie zu verbrauchen, die sich in ihm aufbaute.
Seine Blicke sprangen in der kleinen Küche herum, suchten nach Gegenständen, denen er ebenfalls etwas von dieser Energie mitgeben konnte. Doch es gab von Jahr zu Jahr weniger Dinge in ihrem Haushalt. Er hatte sie alle zerstört, und sie hatten nur selten neue nachgekauft.
Karen fühlte sich weitgehend sicher. Da Holger niemals auf sie selbst losging, musste sie keine
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