Menschenskinder
fest davon überzeugt, dass ihn irgendjemand in die falsche Richtung gedreht hatte. Dieser Eselspfad konnte doch nicht die Straße nach Waldminningen sein! Weil es jedoch keine andere gab und die breitere ganz offensichtlich nach Oberflockenbach und Trösel führte, drehte Rolf das Steuer nach links, während er zwischen den zusammengebissenen Zähnen murmelte: »Wir hätten vorhin an dieser Heiligenfigur anhalten und beten sollen!«
Die Straße war noch ein bisschen schmaler und noch ein bisschen steiler, hatte auch noch ein paar mehr Kurven, doch plötzlich hoppelte der Wagen recht heftig, weil er eine breite Rinne überquert hatte, und dann standen wir auf einer Art Platz. Er war klein, sehr klein sogar, aber wenigstens halbwegs eben, während die von ihm abgehenden drei Straßen entweder steil auf- oder steil abwärts führten. »Wir müssen nach links!«, fiel mir sofort wieder ein, denn diese Straße war noch ein bisschen steiler als die anderen.
»Wie weit?«, fragte Rolf nur. »Der Wagen hat keinen Vierradantrieb.«
»Nur ein paar Meter, dann kommt ein Parkplatz.
»Ihr könnt auch direkt am Haus halten!«, kam eine Stimme von irgendwo über uns, doch die klang erfreulicherweise recht irdisch. »Am besten parkst du hinter Tom.« Mit beiden Händen deutete Katja vom Balkon herunter auf einen Busch, hinter dem dann tatsächlich das schwarze Auto mit dem aufgeklebten Taucher an der Heckscheibe stand.
»Warum hat der sich denn nicht einen Jeep gekauft statt dieser Prestigeschleuder?« Nachdenklich musterte Rolf den Wagen. »Wenn er den im Winter um einen Baum wickelt, wird’s teuer. Ich möchte jedenfalls nicht bei Glatteis die hiesigen Straßen runterrutschen müssen.«
Katja kam uns schon entgegen, nachdem wir kaum die Hälfte der unterschiedlich steilen Stufen zur Haustür zurückgelegt hatten. »Sag mal«, wollte der schon heftig keuchende Vater von seiner Tochter wissen, »sieht man in diesem Ort eigentlich viele Einwohner über sechzig?«
»Darauf habe ich noch nicht geachtet. Warum?«
»Weil ich mir vorstellen könnte, dass sie den größten Teil des Jahres in den Häusern verbringen und ihre Knochenbrüche ausheilen. Gibt es hier herum überhaupt ein paar Quadratmeter ebene Fläche?«
Es gab sie. Nachdem wir auch noch die Treppen innerhalb des Hauses bis zur Wohnungstür erstiegen hatten, standen wir tatsächlich auf einem gefliesten Vorplatz und bestaunten die dort aufgereihten Pantoffeln; mindestens zehn Paar unterschiedlicher Größe und Farbe.
»Die sind neulich aber noch nicht da gewesen!« Alles hätte ich erwartet, abgestellte Flaschen, die endlich mal jemand zum Container bringen müsste, Altpapier, Regenschirme, Gummistiefel, meinetwegen auch noch den Kartoffeleimer und zwei Kohlköpfe, doch auf keinen Fall säuberlich aneinander gereihte Hausschuhe. »Von dir hätte ich diese Ordnung niemals …«
»Wenn du jetzt glaubst, diese Schuhparade sei auf meine schwäbische Herkunft und den daraus resultierenden Reinlichkeitswahn zurückzuführen, dann irrst du dich«, unterbrach mich Katja und öffnete die Wohnungstür, »sie entspringt dem reinen Selbsterhaltungstrieb.« Sie schlüpfte aus den Lederslippern und in ihre bereitstehenden Hausschuhe. »Hast du schon mal einen hellblauen Velours-Teppichboden gehabt?
Fliesen gibt es nämlich nur in der Küche und aufm Klo.«
Dann suchte sie zwei Pantoffelpaare in der entsprechenden Größe heraus und drückte sie uns in die Hände. »Würdet ihr wohl bitte auch …?«
Natürlich würden wir, obwohl ich mich diesem keineswegs ungewöhnlichen schwäbischen Ritual zum letzten Mal vor circa fünfundzwanzig Jahren unterzogen hatte, als wir in Trossingen mit einer Bilderbuchschwäbin in einem Zweifamilienhaus gewohnt hatten. Sie pflegte neben der Wohnungstür im 1. Stock nicht nur ihre Straßenschuhe abzustellen, sondern auch die Gartenschuhe und die Regenschuhe und die für den Keller, und wenn ein Besucher kam, dann durfte er zwar durch die geöffnete Haustür eintreten, musste jedoch unten stehen bleiben, bis die Hausherrin den Zustand seiner Schuhe überprüft hatte. Waren sie einigermaßen sauber, brauchte er sie erst vor der Wohnungstür gegen bereitgestellte Schlappen zu wechseln, anderenfalls hatte das schon unten zu geschehen, und der Besucher musste seine Straßenschuhe in der Hand nach oben tragen, wo er sie auf einer alten Zeitung abstellen durfte. Ich habe selber erlebt, wie Frau Rege … nein, lassen wir sie anonym bleiben – also wie
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