Menschensoehne
umzubringen.«
»Ich war immer der Meinung, dass du Þorbjörg heißen solltest. Eva Lind ist ein unmöglicher Name für eine Mörderin.«
Am gleichen Abend klingelte um Mitternacht das Telefon bei Sigurður Óli. Erlendur war am Apparat und sagte, es sei dringend, ob Sigurður Óli in die Hverfisgata kommen könnte. Er wollte sich nicht am Telefon darüber auslassen, warum, aber er bat seinen neuen Kollegen, sich zu beeilen. Sigurður Óli war bereits im Bett gewesen und stand fluchend wieder auf. Er wohnte in einer stilvollen Dreizimmerwohnung im Westend von Reykjavík. Er hatte sich Designermöbel zugelegt und das Appartement mit ausgewählten Pflanzen dekoriert. Die Wände waren pastell gehalten. Ihm war sehr daran gelegen, sich körperlich und geistig fit zu halten. Er hörte lieber klassische Musik als Pop, ging regelmäßig ins Solarium und Fitness-Center und sah entsprechend aus. Die seltenen Male, wenn er mit Freunden oder Kollegen ausging, wurde er von Frauen umschwärmt. Aber außer kurzen Techtelmechtel hatte er nichts Ernstes mit Frauen im Sinn. Viele seiner Bekannten hielten ihn für schwul, so braun, muskulös und so attraktiv, wie er war. Und noch dazu unverheiratet.
Er hatte sich schon immer für die Arbeit der Polizei interessiert. Nach dem Abitur studierte er zunächst Politikwissenschaften an der Universität, absolvierte dann die Polizeiausbildung und ging anschließend für eine Zeit in die USA, wo er sich auf Kriminologie spezialisierte. Er kehrte mit glänzend bestandenem Examen und intellektuellem Gesichtsausdruck zurück, wie Erlendur es nannte, einem Gesichtsausdruck auf jeden Fall, den man sonst nicht häufig bei der Polizei zu sehen bekam. Er wurde gleich zu Anfang Erlendur unterstellt, und ein ungleicheres Paar ließ sich kaum vorstellen; Erlendur mit seinem Einblick, seiner Erfahrung und seinen althergebrachten Methoden, daneben Sigurður Óli mit seinem akademischen Dünkel und seinem brennenden Ehrgeiz und dem Bestreben, alles, was er sich vornahm, hundertprozentig zu erledigen. Er war ständig darum bemüht, alles als Erster in Erfahrung zu bringen, er musste immer über alles besser und genauer Bescheid wissen als die anderen.
An diesem Abend sollte er etwas kennen lernen, worauf ihn keine Ausbildung jemals hätte vorbereiten können. Und er sah einen Mann zu Werke gehen, der womöglich zu lange im selben Beruf tätig gewesen war.
Als Sigurður Óli die Hverfisgata entlangfuhr, sah er Erlendurs Auto vor einem zweistöckigen mit Wellblech verkleideten Holzhaus stehen. Er parkte seinen Wagen dahinter, stieg aus und setzte sich zu Erlendur ins Auto.
»Kannst du irgendwann einmal mit der Arbeit Schluss machen?«
»Hm, ich bin mir nicht so sicher, ob man das hier direkt als Arbeit bezeichnen kann«, erwiderte Erlendur.
»Als was denn sonst?«
»Ich spiele hier so eine Art Leibwächter, denke ich mal. Du brauchst kein Wort zu sagen, stell dich nur irgendwohin und versuch, wichtig auszusehen. Das fällt dir ja nicht schwer. Hier wohnt ein Typ, mit dem ich ein Wörtchen zu reden habe. Er hat meine Tochter schlecht behandelt, und ich will nur sichergehen, dass er weiß, dass ihn jemand im Blick hat. Ich weiß bloß nicht, ob ich allein mit ihm fertig werde. Falls nicht, greifst du ein.«
»Was meinst du damit, dass er deine Tochter schlecht behandelt hat?«, fragte Sigurður Óli völlig entgeistert über das, was Erlendur ihm gesagt hatte, und die Tatsache, dass er hier offensichtlich in etwas hineingezogen wurde, das eine Privatangelegenheit seines Kollegen war.
»Du kannst mir vertrauen. Wirst du das für mich tun?«
»Ist er allein da drin?«
»Das habe ich überprüft.«
»Dann los.« Sigurður Óli wusste zwar, dass er stattdessen besser wieder nach Hause gefahren wäre, aber seine Neugierde ließ ihn mitmachen. Nichts Menschliches war ihm fremd. Nichts.
Sie stiegen aus dem Auto und gingen ein paar Stufen hinauf. Die Tür war nicht verschlossen und vorsichtig betraten sie eine kleine, verdreckte Behausung, in der es nach Abfällen stank. Die Wände waren dunkelblau gestrichen, von der Decke baumelte eine nackte Glühbirne herunter, in deren Licht man eine Kochgelegenheit und einen Futon erkennen konnte. Außerdem gab es noch ein Klo. Das war alles. Auf dem Futon schlief ein Mann um die dreißig. Es war kalt in der Wohnung, und der Mann lag ohne Hose auf dem Oberbett, ansonsten war er angezogen. Den Fußboden konnte man vor lauter Unrat nicht sehen, größtenteils leere
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