Menschensoehne
vorübergehend. Er erklärte daraufhin, dass er genau wüsste, was ich meinte. Und dann sind wir nie wieder darauf zu sprechen gekommen. Er war überaus zuvorkommend und liebenswürdig, das war er immer, der verfluchte Kerl.«
Guðni zündete sich die nächste Zigarette am noch brennenden Stummel an, den er dann ausdrückte. Er inhalierte den blauen Dunst tief und behielt ihn lange in den Lungen, bevor er ihn wieder hinausblies.
»Aber dann ist etwas passiert«, sagte Sigurður Óli.
»Zu diesem Zeitpunkt war er in den Augen der Dorfbewohner schon ein warmer Bruder, und die Leute redeten so über ihn, ohne dass er eine Ahnung hatte, was sich hinter seinem Rücken abspielte. Die Gemeinschaft schloss ihn völlig aus, wenn du verstehst, was ich meine. So etwas merkt man nur, wenn man darauf achtet, aber das tat Halldór nicht. Die Stimmung war völlig umgeschlagen – schwierig zu beschreiben, aber wer sein ganzes Leben in einem kleinen Dorf gelebt hat, bekommt das mit und nimmt auch daran teil. Das ist nicht so zu verstehen, dass ich ihm die Tür gewiesen hätte, beileibe nicht, aber meine aktive Teilnahme bestand darin, dass ich ihm nicht gesagt habe, was im Gange war. Im Nachhinein lässt sich leicht sagen, dass es das einzig Richtige gewesen wäre, aber es ist auch nicht ganz einfach, eine derartige Situation in den Griff zu bekommen, und wahrscheinlich hätte es, so, wie die Dinge damals standen, auch überhaupt keinen Unterschied gemacht.«
Guðni schwieg eine Weile.
»Damals haben nämlich die Jungen angefangen, sich über ihn zu beschweren. Ich kann mich vor allem an einen Vorfall erinnern, den werde ich bestimmt mein Lebtag nicht vergessen. Ein Junge hier in der Nachbarschaft war eines Tages allein zu Hause und fing an, Hausputz zu machen. Er hatte im ganzen Haus Staub gewischt, hatte die Fenster und sämtliche Spiegel in der Wohnung mit Seifenlauge geputzt. Als die Eltern nach Hause kamen, war er dabei, den Fußboden in der Küche zu schrubben. Ein Junge, der vorher zu Hause nie auch nur einen Finger krumm gemacht hatte, bekam plötzlich einen Putzfimmel! Und dann zündete er im Garten seine Sachen an, buchstäblich alles, was er anzuziehen hatte. Er war nackt, als man ihn dabei überraschte. Niemand begriff, was da vor sich ging. Erst nachdem Halldór mit Schimpf und Schande wegen anderer Vorfälle davongejagt worden war, knöpfte man sich den Jungen noch einmal vor. Er hielt dem Druck nicht stand und erzählte, was zwischen ihm und seinem Lehrer vorgefallen war. Es war scheußlich, kann ich dir sagen.«
»Haben sich danach noch mehr Jungen gemeldet?«, fragte Sigurður Óli.
»Halldór hatte, wie ich bereits gesagt habe, neben dem Unterricht noch andere Aufgaben, er gab nebenbei Sport und hatte die Aufsicht in den Duschen. Ein Schüler in der letzten Klasse der Volksschule erzählte seinen Eltern, dass Halldór ihm unheimlich war. Er würde dauernd da herumstehen und sie ganz komisch angucken. Manchmal seifte er sie sogar ein oder ging mit ihnen unter die Dusche, wo er einen Ständer bekam und sich an die Jungen drückte. Die Geschichte ging wie ein Lauffeuer durch den Ort. Als der nächste Schultag anbrach, gab es keine einzige Menschenseele im Ort, die sie nicht gehört hatte. Im Laufe des Tages sagten zwei Jungen aus, dass Halldór ihnen Geld angeboten hätte, wenn sie ihm gewisse Gefälligkeiten erweisen würden. Sie hatten sich geweigert, deswegen war nichts daraus geworden, doch dann stellte sich heraus, dass andere Jungen das Geld angenommen hatten, und einige mehrfach. Hier im Dorf war die Hölle los.«
»Hat Halldór sich dazu geäußert?«
»Halldór wurde buchstäblich aus der Stadt gejagt, und wir haben ihn nie wieder gesehen. Es war beschlossene Sache, ohne dass groß darüber geredet wurde, die Angelegenheit unter den Tisch zu kehren und alles so schnell wie möglich zu verdrängen. Aber Halldór musste auf irgendeine Weise bestraft werden. Einige Männer taten sich zusammen, sind ihm auf die Bude gerückt und haben ihm damit gedroht, dass er, falls er nicht augenblicklich und für immer aus dem Dorf verschwinden sollte, sein Leben riskierte. Die Leute waren unwahrscheinlich aufgebracht. Wir hatten diesen Mann gut aufgenommen, verstehst du? Hatten ihn wirklich mit offenen Armen empfangen und uns ihm gegenüber immer nur von unserer besten Seite gezeigt, und er hat sich im Gegenzug die ganze Zeit an unseren Kindern vergangen, dieser verfluchte Dreckskerl. Und was für einen verdammt
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