Menschenteufel
mit
ihnen. Das ist doch auch in Ihrem Sinn, Doktor Roschitz?«
»Ganz und gar, selbstverständlich, Herr Präsident.«
Irgendwann rutschst du aus auf deinem Schleim, dachte Freund.
Die Arme noch immer wie Mussolini nach einer Rede aufgestützt,
umkreiste der Pepe die Schöpfung einmal, kopfschüttelnd. Schließlich blieb er
wieder am Ausgangspunkt seiner Runde stehen. Eine Minute lang sagte er gar
nichts. Stand stumm und wiegte sein Haupt. Dann verließ er die Absperrung ohne
ein weiteres Wort. Roschitz folgte ihm auf dem Fuße.
Spazier kratzte seine Glatze. »Was war das jetzt?«
Sie warteten, bis die beiden verschwunden waren, dann folgten sie
ihnen.
In dem schmalen Durchschlupf am Ausgang stieß Freund mit Harry
Fiedler zusammen. Spazier lief hinten auf.
»Hallo! Kommen wir hier heute noch heraus?«
Fiedler winkte Papiere durch die Luft. »Ich habe ein paar
Vermisstenmeldungen, deren Beschreibungen passen könnten.«
Freund nahm sie ihm ab, und bis auf eine reichte er alle weiter. Sie
waren unterschiedliche Typen, aber ein eingespieltes Team. Jeder studierte sein
Blatt kurz. Schon im Lesen machten sie kehrt.
Von Freunds Formular blickte ein älterer Mann mit schütterem Haar
und verschmitztem Blick. Auf dem Bild trug er eine Krawatte und ein Sakko. Den
Hintergrund schien eine Gartenhecke zu bilden.
Das Betrachten von Fotos in Vermisstenanzeigen löste bei Freund
etwas Ähnliches aus wie eine Fahrt in öffentlichen Verkehrsmitteln. Aus Mangel
an anderer Beschäftigung betrachtete er meist die anderen Fahrgäste. Die
fremden Gesichter beflügelten seine Phantasie. War diese Frau glücklich? Wohin
fuhr der Mann? Lebte sie allein oder in einer Partnerschaft? Welchen Beruf übte
er aus? Stammte die Narbe am Kinn auch von einem Fahrradunfall in der Kindheit?
Je älter die Menschen waren, desto faszinierender fand er es, in ihren Falten
zu lesen. Wie sie von den Augen in einem Bogen über die Wangen nach unten
verliefen, wenn die Person viel lachte. Bei Denkern oder Grüblern stiegen
waagrechte Furchen die Stirn hoch wie eine Leiter ins Gehirn. Zornigen hatten
sich ihre Ausbrüche oft als Blitze eingeschrieben, die von den Geheimratsecken
auf die Augenbrauen niederschossen. Was für eine Hecke war das im Hintergrund?
Saß der Mann bei seinen Kindern im Garten?
Doch der Tod veränderte die Züge ein letztes Mal. Im Halbkreis
versammelten sie sich vor dem Teufel. Sein nach oben gewandtes Gesicht befand
sich niedrig genug, um es gut zu sehen. Die Grimasse entstellte es allerdings
fast bis zur Unkenntlichkeit.
Ihre Blicke wanderten auf und ab, vom Papier zum Opfer und zurück.
Freund konnte keine Ähnlichkeiten mit der Person auf seinen Unterlagen
feststellen.
»Ich glaube, meiner ist es«, sagte Varic sehr leise.
Ganz langsam hob sie ihr Blatt hoch und hielt es unmittelbar neben
das Gesicht des Toten.
Freund fröstelte.
Hotel Sisi
Petzold saß an ihrem Küchentischchen, trank den zweiten Espresso
des Morgens und blätterte die Zeitung durch. Der Angriff auf den Schwarzen
hatte das Sommerloch nur kurz gestopft.
Am Abend danach hatte es eine Demonstration gegeben. Gegen
Ausländerfeindlichkeit und Rassismus. Etwa fünfzig Menschen versammelten sich
vor dem Bundeskanzleramt. Hundert Polizisten begleiteten sie. Schwitzen mussten
alle zusammen. Der Kanzler war im Sommerurlaub. Nach einer Stunde war alles
vorbei. Die Zeitungen schrieben einen Absatz im Regionalteil.
Petzold war nicht hingegangen. Sie hatte den ganzen Tag Alibis
überprüft und Protokolle geschrieben. Die Gäste des Syrers schieden ihn, seine
Söhne und die Sicherheitsleute als Täter aus. Die einzigen Anrufe kamen von
Journalisten und Menschenrechtsaktivisten. Jede Geschichte, die über das Thema
neue Hitzerekorde hinausging, war für die Medien ein Segen. Aber es gab keine
Neuigkeiten. Keine Verdächtigen. Keine Hinweise. Keine Spuren.
Zwei Tage lang hatten sie überall gefragt. Botschaften,
internationale Organisationen, Unternehmen und Einrichtungen wie Universitäten
hätten das Verschwinden eines Mitarbeiters gemeldet. Doch dort ging der Mann
niemandem ab. Hilfsorganisationen für Asylanten, Aktionsgruppen gegen
Ausländerfeindlichkeit, Obdachlosenheime und afrikanische Vereine kannten ihn
ebenso wenig. Auch die Kontakte in die Neonaziszene brachten nichts. Als wäre
der Mann vom Himmel gefallen, dachte Petzold. Oder, eher, aus einer Hölle, die
ihn durchgekaut hatte, gespuckt worden.
Pi sprang auf den Tisch und streckte ihr den Schwanz
Weitere Kostenlose Bücher