Menschenteufel
Short nach Wien gekommen? Im ganzen Zimmer fand sie keinen
Hinweis. Wenn es irgendwo einen geben konnte, dann höchstens auf der Festplatte
des Computers.
Petzold dachte an Bohutsch und Krischintzky, die von Short noch
nichts wussten, sonst wären sie schon hier.
Sie suchte die Telefonnummer des Jüngeren auf ihrem Handy, rief ihn
an, gelangte auf die Mailbox und erzählte ihm von der Vermisstenanzeige und dem
Hotel. Dass sie bereits da gewesen war, erwähnte sie nicht.
Mit dem Laptop unter dem Arm verließ sie das Zimmer.
Flow
Zuerst stand die Sommerresidenz der österreichischen Herrscher,
das Schloss Schönbrunn. Bald bauten Adelige und reiche Geschäftsmänner ihre
Sommerpalais daneben. Schließlich drängte das reiche Bürgertum dazu. So
entstand das Villenviertel von Hietzing. Um sich eines der malerischen Häuser
mit den großen Gärten leisten zu können, musste man entweder geerbt haben oder
sehr gut verdienen.
Was davon (oder ob beides) auf Alfred Wuster zutraf, wussten Laurenz
Freund und sein Team noch nicht, als sie vor einer blassgelben Biedermeiervilla
hielten. Auf ihr Klingeln meldete sich niemand. Sie versuchten es noch einmal.
Dann griff Spazier über den Zaun und öffnete das Gartentor. Sie klopften an die
große Holztür.
»Er ist geschieden, heißt es in der Anzeige«, erklärte Wagner.
»Wer hat ihn dann als vermisst gemeldet?«, fragte Freund.
»Eine Geschäftspartnerin. Er ist nicht zu einem Termin erschienen.«
»Da sag noch einmal einer, den Geschäftsleuten ginge es nur ums
Geld.«
»Vielleicht ging es ja genau darum. Und sie ist deshalb zur Polizei
gegangen.«
»Dein Vertrauen in die Menschheit ist bewundernswert.«
»Deshalb bin ich Polizist geworden«, erklärte Wagner.
»Wann wurde die Anzeige aufgegeben?«
»Gestern Mittag«, erklärte Varic. »Den Termin versäumte Wuster aber
schon vorgestern Abend.«
»Sprich mit den Kollegen, die den Fall bearbeiten.«
»Wenn sie schon was bearbeiten.«
Nach zwei weiteren ergebnislosen Versuchen öffneten sie die Tür mit
einem Dietrich. Keine Alarmanlage heulte los. Oder sie war deaktiviert. Der
Eingangsraum bot ein Chaos. Schuhe und Kleidung lagen kreuz und quer. Ein Blick
nach weiter hinten offenbarte ähnliche Zustände.
»Hier war vor uns schon jemand«, stellte Freund fest.
Vorsichtig arbeiteten sie sich vor. Durch den Empfangsraum, von dem
ein Treppenhaus in den ersten Stock führte. Links eine Tür zu einer geräumigen
Küche. Rechts in eine Toilette und eine begehbare Garderobe mit extra
Schuhraum. Wuster hatte klassisch-konservativ getragen und eine gewisse Auswahl
geschätzt. Jetzt war diese allerdings über den ganzen Boden verstreut.
Geradeaus gelangten sie in einen Salon, der sich in großen Glastüren
auf eine Terrasse zum Garten öffnete. Links davon lag eine Bibliothek, rechts
ein Arbeitszimmer. Überall bot sich das gleiche Bild der Verwüstung. Das Haus
war voll gestellt mit Antiquitäten. Freund kannte sich damit nicht aus. Aber
das Interieur schien wertvoll zu sein. Ob man zwischen dem alten Zeug auch
schneller vergreiste? Oder fühlte man sich im Gegenteil ewig jung? Laden und
Türen standen offen, der Inhalt bedeckte das Parkett.
In den zwei Schlafzimmern des ersten Stocks fanden sie durchwühlte
Betten. Ein weiterer Raum war bis unter die Decke vollgeräumt mit Gerümpel. Vom
luxuriösen Bad kamen sie in eine Sauna. Auch in dieser Etage herrschte
komplette Unordnung.
»Vielleicht wurde er entführt«, mutmaßte Wagner.
Freund untersuchte die aufgerissene Post auf dem Wohnzimmertisch.
»Werbesendungen, Einladungen, Rechnungen, Kataloge«, sagte er ihn den Raum,
ohne den Blick zu heben.
Wagner durchwühlte die Unterlagen vor und in einem
Wurzelholzsekretär. »Verschiedene Papiere, Rechnungen, Kontoauszüge. Zwei
Uhren. Also kein Raubüberfall.«
»Notizen, andere Rechnungen«, erklärte Spazier von einer Kommode
her.
Varic schaute hinter jeden der altertümlichen Schinken an den
Wänden. »Keine Safes hier.«
Niemand wusste, wer damit angefangen hatte. Sie waren vier
grundverschiedene Typen. Aber in solchen Situationen handelten sie wie eineiige
Vierlinge. Jeder sagte, was er sah. Gleichzeitig. Durcheinander. Die anderen
bekamen alles mit. Freund mochte diese Momente. Die Konzentration, die
individuellen Beobachtungen, der Informationsaustausch, die bedingungslose
Offenheit für alle Eindrücke. Und damit für die anderen. Fast wurden sie eins. Flow . Freund kannte keine andere Truppe, die so
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