Mephistos Erben: Kriminalroman (German Edition)
ohne psychologisch korrekte und uns entlastende Begründung?«
Lea kam sich vor wie ein Angler, der einen Fisch an der Leine hat und versucht, ihn sehr behutsam an Land zu ziehen, aus Angst, er könne sich vom Haken lösen und ins tiefe Wasser verschwinden.
»Und, überleg mal, wenn wir leugnen, dass es das Böse ohne nachvollziehbaren Grund gibt, verhindern wir, dass die Menschen sich davor schützen, weil sie nicht ernst nehmen, was sie nicht verstehen.«
Lea holte Luft.
»Amen« sagte Ullrich.
»Entschuldige, aber es kommt mir vor, als würde mit einem wichtigen Detail unserer Weltanschauung etwas nicht stimmen.«
Frau Witt kam herein, ging wortlos zur gefüllten Kaffeekanne, die auf der Heizplatte stand, und bediente sich. Nachdem sie zwei Teelöffel Zucker in das schwarze Gebräu gekippt hatte, ging sie mit ihrer Tasse hinaus und schloss leise die Tür. Die Satzfetzen, die sie mitbekommen hatte, signalisierten, dass der Zeitpunkt für eine Anfrage ungünstig war.
»Kannst du dich nicht an die Workshops erinnern«, fuhr Lea unbeirrt fort, »in denen die Teilnehmer sich die schlimmsten Beleidigungen und Beschimpfungen an den Kopf geworfen haben, und man sich nicht getraut hat, einfach aufzustehen und zu gehen?«
Ullrich lächelte gequält.
»Warum nicht, frage ich mich. Diese Verschiebung der Schmerzgrenze war wie der Initiationsritus. Wir waren die Schafe, die Mitläufer, und genau das hat unsere Generation doch unseren Eltern vorgeworfen.«
»Du redest jetzt aber nicht mehr von der Patientin«, warf Ullrich klarsichtig ein.
»Nein, tue ich nicht, stimmt«, gab Lea unumwunden zu.
»Aber …?«
Die Aber waren Leas Spezialität und keineswegs so harmlos, wie sie daherkamen; leiteten sie doch meist den zweiten Teil eines Vortrags ein. »Ich möchte nur sagen, dass ich glaube, dass es eine Menge Susanna van der Neers gab. Dass es fast verpönt war, zufrieden zu sein. Das Streben nach Glück war etwas für Dumme oder Unaufgeklärte, und die Sehnsucht danach ohnehin verdächtig.«
»Übertreibst du nicht ein wenig?«
»Nein, glaube ich nicht. Es wurde doch so lange gewühlt, bis etwas vermeintlich Problematisches zum Vorschein kam: Irgendein Onkel, der einen merkwürdig angeschaut hatte, einen Vater, der nicht emotional genug war, oder eine Mutter, die zu viel oder zu wenig behütet hat.«
»Nun ja«, Ullrich wusste, dass er bei dieser Diskussion um ein Statement nicht herumkommen würde, »bei uns in München war es nicht so extrem. Vielleicht waren wir bodenständiger oder einfach sinnesfroher als ihr in Frankfurt. Außerdem habe ich mich immer von Gruppen ferngehalten.«
»Ach, wirklich? Ich hielt dich für gesellig.«
»Schon, bei einem Glas Rotwein ist das nett, aber Gedanken nachzubeten, die nicht meine eigenen sind, liegt mir nicht.«
»Das glaube ich dir aufs Wort.« Lea konnte sich viel vorstellen, aber Ullrich Köller als schweigenden Mitläufer, dazu reichte selbst ihre Phantasie nicht aus.
Nachdem sie beide nachdenklich in ihre Sprechzimmer verschwunden waren, widmeten sie sich fast erleichtert den meist fassbaren Beschwerden ihrer jeweiligen Patienten. Dennoch hing Lea ihr Gespräch nach, und als sie nach einer wieder recht kurzen Nachmittagssprechstunde die Praxis verlassen konnte, war sie froh, an die frische Luft zu kommen und das lebhafte Stimmengewirr auf der Augustinerstraße zu vernehmen. Die letzten Tage waren merkwürdig verlaufen. Ihre Wahrnehmung für die alltäglichen Dinge war beeinträchtigt, sie war abwesender als üblich, so als folge sie der Spur in eine andere Realität.
Die Wirklichkeit meldete sich jedoch lautstark, als Lea zu Hause angekommen war. Dort war ein handfester geschwisterlicher Streit im Gange. Schon vor der Haustür hörte sie die Empörung aus Frederikes Stimme:
»Du kannst es mir doch wenigstens mal zeigen, das ist so gemein, ich sage es der Mama!«
Lea schloss die Haustür auf.
»Das kannst du vergessen, das ist nichts für kleine Kinder«, wetterte Marie ebenso erbost aus der Küche zurück, »wie kommst du überhaupt dazu, einfach in mein Zimmer zu gehen und damit rumzuspielen?«
Das fehlte jetzt gerade noch. Lea hatte keinerlei Lust, einen Streit schlichten zu müssen. Zur Genüge kannte sie diesen langwierigen Prozess, es gab Tränen, wortreiche Anklagen, schwierige Annäherungsversuche und, mit etwas Glück, zaghafte Waffenstillstandsabkommen. Diese wurden entweder nach zwei Minuten wieder gebrochen, oder der ganze Streit löste sich wie
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