Mephistos Erben: Kriminalroman (German Edition)
den Eintritt in eine Sekte eine Art von Schutz.«
»Na ja, Schutz! So beschützt fühlte sich Frau van der Neer nicht«, widersprach Lea, »jedenfalls nicht, als sie zum ersten Mal bei mir in der Praxis erschien.«
»Stimmt, da hast du recht. Aber vielleicht ist etwas schiefgegangen und anders gekommen, als es geplant war. Normalerweise heißt der Deal ›spirituelle Sicherheit gegen individuelle Freiheit‹.«
»Glaubst du, dass sich jemand umbringt, wenn er durch eine Tarotkarte in einen psychischen Ausnahmezustand gerät?«
»Es gibt nichts, was es nicht gibt, Lea. Das weißt du besser als ich.«
»Schon, aber ich bin mir darüber im Klaren, dass ich immer nur einen Ausschnitt der Menschheit zu Gesicht bekomme. Da überlege ich mir von Zeit zu Zeit ernsthaft, ob ich noch weiß, was normal ist und was nicht. – Aber ich habe noch eine Frage an dich.«
»Nur zu, tu dir keinen Zwang an«, sagte Elisabeth.
»Wer legt eigentlich die Karten? Machen das die Betreffenden selber, oder ist das eher wie bei einer Wahrsagerin: ›Madame Karsokowa sieht Ihre Zukunft voraus‹ und so?«
»Soweit ich weiß, gibt es dabei keine festen Regeln. Manchmal wird in einem feierlichen Ritual eine Karte gezogen mit viel Brimborium und aufwändigem Zeremoniell, aber mitunter ist das Kartenlegen auch nur ein spielerischer Zeitvertreib beim Nachmittagskaffee mit Freundinnen. Schwätzchen und Pralinen inklusive.«
Wie immer, dachte Lea, es ist wie mit vielen Ideen, Lehren und Religionen, es sind immer die Menschen, die daraus etwas Schädliches oder Nützliches machen.
Elisabeth unterbrach ihre Gedanken mit einer Frage: »Du hattest doch auch noch etwas zu dem Namen Marcion wissen wollen, erinnerst du dich?«
»Äh, ja, jetzt, wo du es erwähnst.«
Elisabeth lachte. »Macht nichts, dieser Marcion jedenfalls war ein Schriftgelehrter aus Kleinasien, der etwa 140 Jahre nach Christus eine Liste anerkannter biblischer Schriften zusammengestellt und dabei wohl auch gleichzeitig einige Texte nach seiner Überzeugung verändert hat. Dadurch hat er natürlich die Forschungen nach den ursprünglichen Quellen der Bibel etwas durcheinandergebracht.«
»Hm.«
Diese Erklärung brachte Lea nichts Erhellendes, aber sie beschloss, Kommissar Bender recht bald die Informationen, die sie von Elisabeth erhalten hatte, mitzuteilen. Er war schließlich der Kriminalist.
»Wieso steigst du da eigentlich so ein?«, wunderte sich nun auch Elisabeth. »Interesse an allem Möglichen und ein zuweilen übergroßes Engagement kenne ich von dir, aber eine Zusammenarbeit mit der Kriminalpolizei ist selbst für dich ungewöhnlich.«
»Schon, aber hier liegt die Sache anders. Kennst du das Gefühl, wenn dir etwas nicht einfällt, das du eigentlich immer wusstest? Zum Beispiel der Name der Hauptdarsteller eines Films, den du mindestens zehnmal gesehen hast. Und dass man ständig versucht, sich wieder daran zu erinnern? Mich macht es fertig, wenn ich merke, dass sich etwas quasi unerlaubt aus meinem Gedächtnis entfernt hat.«
»Klar, natürlich kenne ich das Gefühl, geht mir auch so.«
»Und plötzlich, Tage später, beim Kartoffelschälen oder Zähneputzen erinnerst du dich aus heiterem Himmel wieder. Der Schauspieler heißt Cary Grant! So ähnlich geht es mir hier.«
»Na, dann würde ich mir einen Eimer Kartoffeln vornehmen oder den ganzen Tag Zähne putzen oder vielleicht machst du auch, wenn deine Kurzamnesie vorüber ist, Miss Marple Konkurrenz, klärst Mordfälle auf und suchst eine neue Kollegin für Ullrich«, spöttelte Elisabeth.
»Wirklich schön, dass du so verständnisvoll bist und mein Anliegen so ernst nimmst«, entgegnete Lea mit gespielter Verärgerung. »Aber du hast schon recht …«
»Bestimmt habe ich das. Du überlässt diese ganze Angelegenheit einfach der Polizei.«
»Ullrich und Sören haben das auch gemeint, aber ich bekomme keinen Abstand, es geht irgendwie nicht.«
»Also, dann hoffe ich für dich, dass der Fall bald aufgeklärt wird.«
Bevor sich Lea von Elisabeth verabschiedete, machte diese sie noch auf eine Tagung aufmerksam, bei der es um gefährdete Jugendliche gehen sollte, die in Sekten landeten.
»Ich fahre auf jeden Fall dorthin und würde mich über deine Begleitung freuen.«
»Mal sehen, was mein Terminkalender dazu meint«, reagierte Lea vorsichtig. »Ich sage dir auf jeden Fall Bescheid, ob ich es irgendwie einrichten kann.«
Sie bedankte sich bei Elisabeth, die davon noch immer nichts hören wollte, und
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