Mercy, Band 2: Erweckt
bleibe vor der Tür stehen und mustere den engen Flur mit dem nackten, gesprenkelten Betonboden. An den Fußleisten wuchert Schimmel, die geblümte 70er-Jahre-Tapete wirft an manchen Stellen Blasen, als würde sie von einem unterirdischen Strom gespeist. Die Decken sind niedrig und es stinkt nach Moder und Pilzen.
Ich schaudere und weiche in den vorderen Flur zurück. Oh, Justine, denke ich unwillkürlich.
Als sie wieder herauskommt, einen vollgepackten Matchbeutel über der Schulter, schließt sie die Tür mit einem Ersatzschlüssel ab, den sie in der Wohnung aufbewahrt hat, und sagt strahlend: „Also gut, ich folge dir.“
Kurz darauf öffne ich die Tür zu Lelas Haus, das nur eineinhalb Blocks entfernt ist.
„Mum?“, rufe ich leise.
Georgia steht auf und packt ihre Sachen zusammen, als ich mit Justine im Schlepptau in Mr s Neills Schlafzimmer komme. Sie nickt Justine zu, ohne eine Miene über deren seltsame Aufmachung zu verziehen.
Justine blickt sich verlegen im Zimmer um. „Lela“, sagt sie leise, „warum hast du mir nichts gesagt?“
„Sie schläft jetzt“, wispert Georgia, „aber sie hat nach Ihnen gefragt, Lela. Ich komme morgen wieder, und falls es ihr schlechter geht, rufen Sie die Nummer am Kühlschrank an. Einer von uns ist immer erreichbar. Ich kann mich irren, aber ich habe so ein Gefühl, dass es zu Ende geht.“
Ich nicke düster. „Ich auch. Danke.“
Justine kauert in dem Sessel, in dem ich sonst schlafe, deshalb nehme ich mir einen Schemel.
„Bist du das, Lel?“, murmelt Mr s Neill, ohne die Augen zu öffnen, als ich den Schemel näher an ihr Bett ziehe.
„Ja, Mum“, antworte ich leise. „Und ich habe eine Freundin zum Übernachten mitgebracht. Sie heißt Justine.“
Justine beugt sich vor. „Ich will Sie aber nicht stören, Mr s …“
„Neill“, werfe ich schnell ein, als ich Justines angestrengtes Gesicht sehe. Es ist wahr, wir kennen uns ja kaum.
„Mr s Neill“, wiederholt Justine befangen.
Lelas Mum öffnet die Augen, dreht leicht ihren Kopf und lächelt uns beiden vage zu. „Schön, dass Sie uns besuchen, Justine. Lela hat schon lange keine Freundin mehr mitgebracht, nicht so wie früher, da hatten wir ständig Gäste hier.“
Sie schluckt mühsam, schließt die Augen. Höflich bis zum letzten Atemzug. „Ich hoffe, Sie fühlen sich hier zu Hause“, fügt sie hinzu und ihre Stimme ist wie ein Windhauch aus dem Jenseits.
Dann sinkt sie in einen unruhigen Schlaf zurück, als hätte das Sprechen ihr die letzten Kräfte geraubt. Ich muss mich vorbeugen, um auf ihren Atem zu lauschen, um mich zu vergewissern, dass sie noch bei uns ist.
Als ich aufstehe und aus dem Zimmer gehe, folgt Justine mir sofort.
„Das hier ist die Küche“, sage ich und steuere auf die Tür zu. „Mal sehen, was ich di r …“
Ich öffne den Kühlschrank, in dem ein einsames Glas Aprikosenmarmelade steht. Im Gefrierfach finde ich noch einen halben Laib Bro t – Herkunft unbekannt, Alter ebens o – und jede Menge Plastikdosen mit einer undefinierbaren gefrorenen braunen Masse. Wahrscheinlich Essen für Lelas Mutter, das ich ungern anbieten möchte, da ich nicht mal weiß, was es ist.
„ … zum Abendessen vorschlagen kann. Ähm, also, wie es aussieht, leider nur Marmeladenbrot“, sage ich entschuldigend.
Ich bin nicht oft hungrig, ich esse und trinke nur mechanisch, wenn der Körper, den ich bewohne, Durst oder Hunger signalisiert. Bisher bin ich noch nie auf den Gedanken gekommen, Essen einzukaufen.
„Marmeladenbrot ist super“, lacht Justine, und es klingt ehrlich erfreut. „Ich liebe Marmelade.“
Wir gehen aus der Küche und über den Flur zu Lelas Zimmer. „Ich zeig dir jetzt, wo du heute Nacht schläfst“, sage ich.
„Das ist ein schönes Haus“, lobt Justine, die in ihrem chinesischen Schlafanzug hinter mir hertrottet.
Ich werfe ihr einen ironischen Blick zu.
„Ja, okay, ein bisschen Saubermachen könnte nicht schaden“, räumt sie ein, mit einem Anflug von Sehnsucht in der Stimme.
Ich schaufle einen Platz für Justines Matchbeutel auf dem Schreibtisch frei und sage ihr, dass sie es sich bequem machen solle. Dann gehe ich zu dem Wäscheschrank im Flur, um frische Bettwäsche zu holen. Während ich schnell Lelas Bettzeug wechsle, blickt Justine sich im Zimmer um, lässt ihre Finger an dem alten, in die Wand eingebauten Kamin entlanggleiten und zieht die Vorhänge auf, um in den verwilderten Garten hinauszuschauen.
„Der Garten ist aber schön“,
Weitere Kostenlose Bücher