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Mercy, Band 4: Befreit

Mercy, Band 4: Befreit

Titel: Mercy, Band 4: Befreit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilse Rothfuss
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Dann macht der Pfad eine Biegung, und was ich dahinter erblicke, verschlägt mir den Atem: In schwindelnder Höhe kleben an einer Felsklippe die Ruinen einer Stadt, die einst aus hellgrauem Granit erbaut wurde. Anmutige konkave Terrassen senken sich am Hang herab, mit alten Brunnen und Wasserläufen dazwischen. Auf der anderen Seite der Schlucht stürzt ein schäumender Wasserfall ins Tal – herrlich unberührt wie am ersten Schöpfungstag.
    Ich drehe mich automatisch zu Ryan um, will meine Begeisterung mit ihm teilen, aber natürlich ist er nicht da.
    Mateo ruft von oben zu mir herunter: „Wiñay Wayna!“
    Und ich weiß, dass der Name des Ortes „Ewig jung“ bedeutet.
    Dann dreht Mateo sich zu Uriel um und gestikuliert wild. Wahrscheinlich schlägt er eine Pause vor, aber Uriel schüttelt den Kopf. Mateo redet beschwörend auf ihn ein, zeigt zu Ryan hinunter, der sich weit unter mir die Treppe hinaufschleppt. Ich kann an seiner Körperhaltung ablesen, wie erschöpft und mutlos er ist.
    „Ryan? Pause?“, ruft Mateo besorgt zu ihm hinunter.
    Ryan blickt auf und schüttelt den Kopf – stolz, verbissen. Dann starrt er wieder auf seine Stiefel. Wir machen also keine Rast, weil niemand es einfordert, und Mateo bleibt nichts anderes übrig, als weiterzugehen, vorbei an der geheimnisvollen Stadt, immer weiter bergauf.
    Endlich geht es wieder abwärts, und der Weg führt uns durch einen Nebelwald mit knorrigen Bäumen, Farnwedeln, Orchideen und üppig wuchernden Grünpflanzen hinunter. Meine innere Uhr sagt mir, dass es kurz vor Mittag ist. Es wird jetzt wärmer und das dichte Laubdach über unseren Köpfen schützt uns vor dem schlimmsten Regen. Grüne Kolibris und Schmetterlinge gaukeln zwischen den Blättern umher.
    Mateo zwingt Uriel endlich zu einer Rast und eilt auf dem gepflasterten Inkaweg zurück, um Ryan zu holen.
    Uriel streift den Rucksack mit den Vorräten von seiner Schulter und studiert mit kaum verhohlener Ungeduld die Umgebung. „Ryan hält uns auf“, murrt er. „Hat er nicht gesagt, er könne uns nützlich sein? In welcher Weise, frag ich dich?“
    „Was soll er machen?“, erwidere ich knapp. „Er kann jetzt nicht einfach umkehren. Und ich bin mit ihm zusammen, ob es dir passt oder nicht. Du wirst dich also damit abfinden müssen.“
    Wenig später kommt Mateo mit Ryan zurück. Er muss ihn stützen und Ryan sieht so blass und elend aus, dass ich den beiden erschrocken entgegeneile.
    „Er hat Halluzinationen“, sagt Mateo besorgt. Ich lege Ryans anderen Arm über meine Schulter. „Er behauptet, dass ihm der Teufel erscheine und dass der Teufel genauso aussehe wie er.“
    „Was gäbe ich dafür, wenn es nur Halluzinationen wären“, murmle ich vor mich hin.
    Wir breiten die Regenponchos aus, die Mateo mitgenommen hat, und legen Ryan darauf. Ich halte ihn, bis sein Körper sich langsam aufwärmt, sein Atem regelmäßiger geht und seine Wut zurückkehrt.
    Schließlich setzt er sich auf. „Mir geht’s gut“, krächzt er heiser und will sich aus meiner Umarmung winden, aber er ist zu schwach und ich lasse ihn nicht los. Plötzlich wird ein richtiger Machtkampf daraus, und wir balgen uns auf der Grasböschung, rutschen im Schlamm herum, verheddern uns in den Plastikponchos, bis Uriel dazwischengeht und wir fluchend und schimpfend voneinander ablassen.
    „So zeigt ihr euch also eure Liebe?“, sagt Uriel ungläubig.
    „Nein“, keucht Ryan, der von Kopf bis Fuß mit Schlamm bespritzt ist, und der harte Ausdruck in seinem Gesicht verschwindet. „Normalerweise sag ich’s ihr mit Blumen, aber das ist die pure Verschwendung bei so einem Sturkopf.“ Dann dreht er sich zu mir um und fragt vorsichtig: „Alles wieder gut?“
    „Mir ist eine Runde Sumo-Ringen tausendmal lieber als Blumen“, erwidere ich grinsend. „Warum soll ich also sauer sein?“
    Ryan lacht, und das mulmige Gefühl, das mich schon den ganzen Tag verfolgt wie eine schwarze Wolke, löst sich endlich auf.
    Wir lächeln uns an und Uriel sagt angewidert: „Das soll einer verstehen.“
    Mateo kommt zögernd näher, reicht jedem von uns eine Wasserflasche und Plastikteller mit Essen aus dem Rucksack: frisch geschnittene Brotscheiben mit weichen weißen Käsebrocken, dazu einen bunten Salat aus Kartoffeln, Gurke, Zwiebelscheiben, Rote Beete und Majonäse. Mateo mustert Ryans durchnässte, schmutzige Kleidung, dann fällt sein Blick auf Uriel und mich. Wir sehen immer noch aus wie aus dem Ei gepellt – trocken, sauber,

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