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Mercy, Band 4: Befreit

Mercy, Band 4: Befreit

Titel: Mercy, Band 4: Befreit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilse Rothfuss
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Autos oder in ihren glänzenden Pelzmänteln und Winterjacken auf den Gehsteigen, mit Aktentaschen, Schulranzen und Einkaufsbeuteln bewaffnet. Ich bewundere die Biker in voller Lederkluft, die Mopedfahrer unter ihren Retro-Helmen, manche mit Beifahrern auf dem Rücksitz. Und die ganze Zeit suche ich in diesem Gewimmel von Großstadtleben, in dieser menschlichen Hybris nach wandernden Lichtflecken, die nicht den physikalischen Gesetzen gehorchen. Feuerwesen, die sich als gewöhnliche Menschen tarnen. Aber ich sehe nur eins: dass Weihnachten naht. Überall funkeln grelle Neonschilder, elektrische Lichterketten und kitschige bunte Weihnachtsdekorationen an Fenstern und Türen.
    Inmitten der engen Gassen voller rücksichtsloser Autofahrer und Trauben von schönen jungen Menschen, die sich auf den Gehsteigen drängen, fällt mir plötzlich etwas auf. Eine Veränderung, die so schleichend kam, dass es eine Weile gedauert hat, bis ich sie bemerkt habe. Aber jetzt bin ich wie elektrisiert. Ungläubig schnellt mein Blick von meinem Fenster zu Ryan, dann zur Windschutzscheibe. Was in aller Welt ist mit meinen Augen passiert? Oder nein, eigentlich mit meiner Sprachfähigkeit? Die Straßenschilder und Schaufenster, die an uns vorübergleiten, können sich nicht über Nacht verändert haben. Also muss es an mir liegen. Ich kann plötzlich alles lesen. Jede Sprache, jede Schrift, und ich kann sofort sagen, welche es ist: Italienisch, Chinesisch, Deutsch, Arabisch, Koreanisch, Türkisch, Hebräisch oder Hindi. Sobald irgendwo Wörter oder Schriftzeichen auftauchen – an der Scheibe eines Tabakladens, auf den Neonschildern von Bars oder Restaurants, von Pelzgeschäften, Mini-Märkten und Billig-Klamotten-Läden –, weiß ich sofort, was sie bedeuten.
    Meine Augen wandern über Wörter und Sätze in völlig fremden Sprachen, von denen ich zum Teil nie gehört habe und die ich jetzt mühelos entziffern kann. Irgendwie ist mir meine alte Fähigkeit wiedergegeben, alle Engels- und Menschensprachen zu beherrschen. Am liebsten würde ich Ryan aufwecken. Er ist jetzt immer mein erster Gedanke, wie eine Melodie, die ich im Ohr habe und die mich nicht loslässt. Aber am Ende siegt meine Vernunft und ich lasse ihn in Ruhe. Er muss schon genug aushalten, auch ohne dass ich ihm grundlos seinen Schlaf raube.
    Wir fahren weiter durch die Stadt und allmählich entspanne ich mich ein wenig. Die Straßen sind immer noch verstopft, mit Menschen und Fahrzeugen überfüllt, ein Chaos von Lichtern, Lärm und Schildern in allen Sprachen der Welt. Aber ich weiß jetzt, dass wir nicht verfolgt oder beobachtet werden. Und ich kann nur ahnen, was Michael und die anderen auf sich genommen haben, um Luc in Schach zu halten, damit ich entkommen kann.
    Ich dürfte gar nicht mehr hier sein, müsste das Antlitz der Erde längst hinter mir gelassen haben. Aber wenn ich den schlafenden Ryan ansehe, weiß ich, dass ich nicht gehen kann.
    Als wir nach einem Schild mit der Aufschrift „Lago di Como“ auf die Autobahn fahren, nehme ich Ryans Hand, so stark ist mein Bedürfnis, ihn zu berühren. Ryan wacht sofort auf.
    „Hab ich was verpasst?“, fragt er erschrocken und blickt sich um. „Warum hast du mich nicht früher geweckt?“
    Kurz vor der Ausfahrt nach Malpensa gerät der Verkehr ins Stocken und wir kommen etwa eine Stunde lang nur noch im Schritttempo vorwärts, bis wir die Ursache für den Stau erkennen: Quer über die Autobahn bei Como Monte Olimpino wurde eine riesige Straßensperre errichtet.
    Irgendwann sind wir an der Reihe, und ein einzelner Polizist tritt aus einer Gruppe von Uniformierten hervor, die aufgekratzt miteinander reden und lachen. Trotzdem steht ihnen die Nervosität ins Gesicht geschrieben. Unser Fahrer lässt das Fenster herunter, erklärt auf Italienisch, dass wir reiche Ausländer seien, Freunde der St.-Alban-Familie, und dringend nach Moltrasio müssten.
    Der glatt rasierte, junge Polizist mit den stechend blauen Augen, der dunklen Schildmütze und eleganter Uniform antwortet kühl in derselben Sprache: „Nur für Anwohner, ohne Ausnahme.“
    „Aber die Herrschaften werden erwartet“, jammert der Fahrer, und ich höre das tiefe Unbehagen in seiner Stimme. „Sie haben einen Empfehlungsbrief.“
    „Das ist mir egal, und wenn der Brief vom lieben Gott persönlich käme“, bellt der Polizist. „Nur Anwohner. Biegen Sie nach links ab.“
    Ich lasse Ryans Hand los und beuge mich über ihn, um den Rucksack hochzunehmen, dann

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